ISSUE 5

ISSUE 4

ISSUE 3

ISSUE 2

ISSUE 1




ABOUT
IMPRINT/DATA PROTECTION

NEWSLETTER


Archiv: Die Hampelfrau

von Sophia Roxane Rohwetter in Kooperation mit basis wien – Archiv und Dokumentationszentrum


Seit 2021 verwaltet basis Wien gemeinsam mit Susanne Kompast den Nachlass der 2018 verstorbenen Künstlerin Brigitte Aloise Roth, auch bekannt als Brigitte Roth oder Birgitta Roth, der im Rahmen des EU-geförderten Projekts „Strategie Kulturerbe digital“ seit 2025 digitalisiert wird. Ihre Hampelfrau aus den 1970er Jahren bewegt sich, wie ihr Werk insgesamt, zwischen Fotografie, Performance und feministischem Aktivismus. Das Selbstporträt als Foto-Gliederpuppe, deren selbst- und zugleich fremdbestimmte Bewegung im Moment der fotografischen Dokumentation fixiert ist, eröffnet eine feministische Perspektive auf das Thema Einflussangst und das Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit, Macht und Ohnmacht.





       Ein Hampelmann ist laut Duden ein aus „Holz, Pappe oder dergleichen hergestelltes, an die Wand zu hängendes Kinderspielzeug in Gestalt eines Mannes (besonders eines Kaspers, einer Märchenfigur oder dergleichen), der, wenn man an einem daran befestigten Faden zieht, Arme und Beine waagerecht vom Körper abspreizt und Unterschenkel und Unterarme nach unten baumeln lässt.“ Metaphorisch wird damit ein willensschwacher Mensch, meist ein Mann, der wie eine Marionette leicht zu lenken und zu beeinflussen ist, bezeichnet. Brigitte Aloise Roths Fotografie Hampelfrau(ursprünglich 1974) ist ein mit Langzeitbelichtung aufgenommenes Selbstporträt als schlenkernde Foto-Gliederpuppe (Abb. 1). Kopf und Oberkörper hängen scheinbar unbewegt vor dunklem Hintergrund an einem hellen Faden, während Arme und Beine als separat bewegliche Elemente – mit Flügelklammern an Schultern, Ellenbogen, Becken und Knien befestigt – durch Mehrfachbelichtung und Bewegungsunschärfe vervielfacht sind. Die Gliedmaßen fächern sich seitlich um den Torso auf und folgen den schematisch-mechanischen Bewegungen eines Hampelmanns: Die angewinkelt erhobenen Armen strecken sich nach unten, die Beine öffnen sich in einer Abfolge übereinandergelegter Positionen mit variierenden Spreizwinkeln immer weiter. Die fremdgesteuerte Dynamik der hampelnden Extremitäten erscheint seltsam unkontrolliert, und steht im Kontrast zu dem ruhigen, selbstpräsenten Blick der Hampelfrau, wodurch eine Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, Aktivität und Passivität entsteht.


       Die Hampelfrau entstand vermutlich 1974 im Rahmen von Brigitte Aloise Roths Studium der Gebrauchsgrafik, Illustration und Fotografie sowie des Lehramts für bildnerische Erziehung und Werkerziehung an der Hochschule für angewandte Kunst Wien. Fotografien von Hand- und Stabpuppen, Marionetten und Schattenspielfiguren aus der Puppentheatersammlung im Stadtmuseum München aus demselben Jahr sowie eine Materialsammlung aus dem Nachlass der Künstlerin, die unter anderem Zeitungsberichte über das Salzburger Marionettentheater enthält, deuten darauf hin, dass dem Entwurf der Gliederpuppe, eine intensive Recherche vorausging.[1] Unter den in München entstandenen Schwarzweißfotografien finden sich Porträts einzelner Puppen, etwa das eines kasperleköpfenden heulenden Mädchens im Barock-Look (Abb. 2), sowie zahlreiche Aufnahmen von Puppengruppen, darunter eine sechsköpfige, internationale Clique (Abb. 3) bestehend aus dem ungarischen Verwandten von Kasperle, Vitéz László, dem Hanswurst des Lyoner Puppenspiels Guignol mit seiner Frau Madelon und einem Teufel und Burratini-Figuren des italienischen Volkstheaters aus dem 19. Jahrhundert. Während es sich hierbei um die Aufnahme eines für die Sammlungspräsentation inszenierten Arrangements handelt, gewähren andere Fotografien Roths einen Blick hinter die Kulissen – etwa das Bild einer in Froschperspektive aufgenommenen Gruppe dicht nebeneinanderliegender Puppen im Museumslager (Abb. 4). Durch die Untersicht und ihre stark überzeichneten Gesten und Gesichtszüge wirken die Figuren menschengroß und in sozialer Interaktion, obwohl sie eigentlich reglos daliegen. Diese Spannung zwischen Aktion und In-Aktion zeigt sich auch in Fotografien, die die Mechanik des Marionettenspiels, die Fäden und Steuerkreuze, an denen die Puppen geführt werden, fokussieren (Abb. 5). Trotz des Sichtbarmachens ihrer Fremdsteuerung wirken die Marionetten durch Roths Betonung ihrer körperlichen Expressivität und präzise modellierten Gesichtszüge eigenwillig und lebendig. Nur wenige Fotografien zeigen die Puppenspieler selbst: Ein Kind etwa lenkt, im Haltegriff eines Erwachsenen, vermutlich des Vaters, von der erhöhten Puppenbühne aus konzentriert das Steuerkreuz einer im Bild nicht sichtbaren Marionette, während in einem anderen Bild ein Erwachsener mit hochgestreckten Armen zwei Handpuppen einander gegenüberstellt und zu der über seine rechte Hand gestülpten Kasperle-Figur hinaufblickt, die aus einer Armlänge Entfernung auf ihn herabschaut (Abb. 6, 7).



       In dem 1929 ausgestrahlten Rundfunkbeitrag für Kinder über das „Berliner Puppentheater“, in dem auch die Münchner (und die Wiener) Tradition des Puppenspiels nicht unerwähnt bleibt, erklärt Walter Benjamin seinen kleinen Zuhörerenden (und den unter ihnen vermuteten Erwachsenen): „Alle großen Puppenspieler versichern, das Geheimnis der Sache sei eigentlich, der Puppe ihren eigenen Willen zu lassen, ihr nachzugeben. Der große Dichter Heinrich von Kleist (das sage ich für die paar Erwachsenen, die hier sich zwischen den Kindern versteckt haben und denken, ich sehe sie nicht) hat in seinem Aufsatz über das Marionettentheater sogar bewiesen, daß der Puppenspieler sich ganz und gar wie ein Tänzer verhalten muß, wenn er die Figuren richtig bewegen will. Dann kommt dieser schönste Anblick zustande, wie die Kleinen gleichsam mit ihren Zehenspitzen den Boden kitzeln, weil sie ja, wie die Engel, von oben herunter kommen und nicht, wie richtige Schauspieler, an die Schwerkraft gebunden sind.“[2] Vielleicht bewegte sich auch Roth mit ihrer Kamera wie eine große Puppenspielerin, wie eine Tänzerin, durch die Puppentheatersammlung des Münchner Stadtmuseums, um die Figuren im fotografischen Akt in schwerelose Bewegung zu versetzen und darin gleichsam zu fixieren.

       Für die performative Aufhebung der Schwerkraft interessierte sich Roth auch jenseits des Puppentheaters. Nach ihrem Abschluss an der Angewandten erhielt sie ein Stipendium für Fotografie und Film vom British Council in London, wo sie von 1975 bis 1977 die überwiegend instructional und games-based Performances der 1974 gegründeten Künstler*innengruppe The Ting, auch bekannt als Ting, The Ting: The Theatre of Mistakes und The Theatre of Mistakes, fotografisch begleitete.[3] Im Nachlass in der basis wien befinden sich unter anderem Fotografien der Performance A Waterfall, die 1977 im Rahmen der ersten, kontrovers diskutierten Hayward Annual, einer bis 1980 jährlich stattfindenden  Überblicksausstellung über neue Tendenzen in der britischen Kunst, auf dem Dach der Hayward Gallery stattfand. Roths Dokumentation der Performance, die aus 48 einstündigen Sequenzen bestand, die über 48 Tage hinweg präsentiert wurden, zeigen weiß gekleidete Performer*innen, die auf aufeinander gestapelten Tischen und Stühlen sitzen und sich vor der Kulisse der Hochhäuser von Central London zu einem etwa fünf Meter hohen Turm formieren (Abb. 8). Die Performer*innen halten jeweils zwei Plastikbecher in den Händen und gießen Wasser von dem einen Becher in den anderen oder in einen der über oder unten ihnen sitzenden Person. Das Wasser dieses aus Körpern gebildeten Wasserfalls fließt insofern nicht nur nach unten, sondern auch nach oben. Das Prinzip des „inversed pouring“ ist Teil eines größeren Projekts von The Ting, das darauf abzielt, die Gesetze der Schwerkraft über das soziale und physikalische Zusammenspiel von Körpern, Objekten und Architektur zu desorientieren.[4]


       1977 kehrte Roth aus London nach Wien zurück und begann an Mittelschulen sowie an der alternativen Ätsch-Schule für emanzipatorische Erziehung zu unterrichten, wo sie die Kinder auch in die Kunst des Puppenspiels einführte und mit ihnen eigene Handpuppen herstellte. Ab 1980 arbeitete sie als freischaffende Künstlerin und nahm 1983 mit der Hampelfrau an der ersten FEMINALE an der Angewandten teil. Neben weiteren Ausstellungsbeteiligungen und Performances entstanden in den 1980er Jahren mehrere bemerkenswerte fotografische Dokumentationen von Ausstellungseröffnungen in Wiener Kunstinstitutionen. Diese sind zugleich zeithistorische Dokumente wie auch fotografische Reflexionen der sozialen Choreografien und Blickdynamiken im Feld der Kunst und geben darüber hinaus Aufschluss über Roths Position darin, die sich als Fotografin sowohl am Rand als auch inmitten des Wiener Kunstgeschehens bewegte. Aufnahmen der Eröffnung der Andy Warhol Ausstellung im 20er-Haus im Jahr 1981 zeigen den hektischen Tumult um den Künstler, verschiedene Nahansichten beim Signieren, die suchenden und erwartungsvollen Gesichter von ihm und umstehenden Politiker*innen und Journalist*innen während der Eröffnungsreden, sowie händeschüttelnde, ins Gespräch vertiefte und gelangweilte Ausstellungsbesucher*innen (Abb. 9, 10). Im Fokus der Bilder steht die Dynamik zwischen dem Publikum untereinander, mit dem Künstler und der Kamera, wobei Warhols Kunst – eine Variation des Electric Chairs – nur beiläufig ins Bild gerät. Im selben Jahr dokumentierte Roth die Veranstaltung Frauen – Macht und Ohnmacht im Künstlerhaus, an der unter anderem Friederike Mayröcker, Margarethe Mitscherlich und Klaus Theweleit sowie das feministische Künstler*innennetzwerk IntAkt (Internationale Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen) beteiligt waren. Auch hier sind neben Podien und Performances vor allem die vielen, dicht gedrängten Zuschauer*innen um und auf der Bühne, während und zwischen des Programms, darunter auch viele Kinder zu sehen (Abb. 11)


       Das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, das bei der Veranstaltung als „Frauenfrage“ diskutiert wurde, führt zurück zur Hampelfrau. In Form eines Selbstporträts als Gliederpuppe wird hier eine Gleichzeitigkeit von Macht und Ohnmacht inszeniert: Der weibliche Körper ist der Kontrolle eines anderen ausgeliefert und beherrscht sich zugleich selbst. Seit dem posthumen Ankauf einer Variation der Hampelfrau durch die SAMMLUNG VERBUND wird die Arbeit vermehrt und im Kontext der österreichischen feministischen Avantgarde der 1970er und 80er Jahre neben Künstlerinnen wie VALIE EXPORT, Renate Bertlmann und Margot Pilz rezipiert.[5] Dem feministischen Aktionismus von VALIE EXPORT, der darauf abzielt, „das Objekt der männlichen Naturgeschichte endlich zum Subjekt seiner eigenen Geschichte“[6] zu machen, steht – oder vielmehr zappelt – die Hampelfrau ambivalent gegenüber. VALIE EXPORTs Selbstporträt Aktionshose: Genitalpanik (1969), das die Künstlerin breitbeinig auf einer Bank sitzend zeigt, bekleidet mit der titelgebenden „Aktionshose“, die ihre Genitalien freilegt, und mit einer langen Waffe in der Hand, liefert das ikonische Bild der willensstarken, handlungsfähigen Künstlerin als feministische Aktionistin. Dagegen bewegen sich die gespreizten Beine der Gliederpuppe der Hampelfrau uneindeutig zwischen Selbstbehauptung und Fremdsteuerung, Aktion und Passivität. An die Stelle des heroischen feministischen Aktionismus tritt hier das Bild einer anderen feministischen Subjektivität, die sich mit der Kunsthistorikerin Caroline Lillian Schopp als eine Form der „feminist in-action“ beschreiben lässt: eine Verschiebung des Begriffs der „Aktion“ weg von Unmittelbarkeit, Unabhängigkeit und Autonomie hin zu Dauer, Abhängigkeit und Relationalität.[7]

       Über eine solche künstlerische Performance feministischer In-Aktion hinaus agierte Brigitte Aloise Roth, insbesondere ab den 1990er Jahren als feministische und umweltpolitische Aktivistin zunehmend im öffentlichen Raum und in der politischen Selbstorganisation. So nahm sie in den Jahren 1996 bis 1997 an zahlreichen künstlerischen Aktionen für das erste österreichische Frauenvolksbegehren teil, war Gründungsmitglied des kosmos.frauenraum (ab 2002 Kosmos Theater), dessen Vorstandsmitglied sie bis zu ihrem Tod blieb und in dem sie noch im Rollstuhl performte, sowie aktives Mitglied bei 20.000frauen, und von 2001 bis 2005 Grünen-Bezirksrätin im 13. Wiener Gemeindebezirk Hietzing.

       Ihr Leben und Werk beschrieb sie 1983 in der Zeitschrift Das Pult treffend selbst: „So gesehen sind meine Bilder Ausdruck einer zutiefst persönlichen, individuell menschlichen Grundsituation. Dualismus: Einfangen, Dokumentieren der Wirklichkeit – Experimentieren mit der Wirklichkeit.“



[1] Die Puppentheatersammlung des Münchner Stadtmuseums, die Objekte und Dokumente zu allen Bereichen des traditionellen Puppenspiels ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert sowie Materialien zum zeitgenössischen Figuren- und Objekttheater umfasst, ist mit einer Kollektion von etwa 13.000 Figuren – darunter Hand- und Stabpuppen, Marionetten, Schattenspielfiguren, mechanisch bewegliche Figuren und Automaten – die weltweit größte Spezialsammlung dieser Art. Die Sammlung wurde 1940 von Ludwig Krafft gegründet, im Anschluss an das ein Jahr zuvor geplante, aber nicht realisierte Ausstellungsvorhaben „Das süddeutsche Puppenspiel“. Krafft blieb auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1966 Leiter der Sammlung. In ihr befinden sich auch Objekte des „Münchner Marionettentheater Jüdischer Künstler“. Dieses Theater (ehemals Marionettentheater Bimath Buboth) ging um 1934 aus einem Freund*innenkreis um die Malerin Maria Luiko hervor, die ein hochqualifiziertes Ensemble aus Opernsolist*innen und Kammersänger*innen, bildenden Künstler*innen und Schauspieler*innen versammelte, die vor 1933 in München öffentlich aufgetreten waren. Zwischen 1934 und März 1937 entstanden fünf Schauspiele und drei einaktige musikdramatische Inszenierungen, für die Luiko die Puppen und Bühnenbilder entwarf. In der Puppentheatersammlung des Münchner Stadtmuseums befinden sich heute 49 Fadenmarionetten von Maria Luiko. Sie wurde 1941 aus München deportiert und in Kovno (Litauen) ermordet. Unter den Fotografien von Roth konnte ich Luikos Puppen bisher nicht entdecken.
[2] Walter Benjamin, „Berliner Puppentheater“, in Gesammelte Schriften Band VII, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 80–86, hier S. 83.
[3] Die Gruppe hatte wechselnde Mitglieder, wobei einige während der Performance diese gleichzeitig fotografisch dokumentierten. Ob Brigitte Aloise Roth aktives Mitglied der Gruppe und ihre Fotografien Teil der Performances waren, ist bisher nicht ausreichend recherchiert worden.
[4] Vgl. Jason E. Bowman, „There’s a Reason: A Case for The Theatre of Mistakes“, in: Ausstellungsbroschüre anlässlich der Ausstellung In Case There’s a Reason: The Theatre of Mistakes, 30. Juni-6. August 2017, kuratiert von Jason E. Bowman, online: https://gupea.ub.gu.se/bitstream/handle/2077/54839/gupea_2077_54839_2.pdf?sequence=2&isAllowed=y
[5] Die Hampelfrau war zuletzt in den Ausstellungen „Feministische Avantgarde Made in Austria. Werke aus der SAMMLUNG VERBUND“ in der Vertikalen Galerie des VERBUND Headquarters (2020) und „Female Sensibility. Feministische Avantgarde aus der SAMMLUNG VERBUND“ im Lentos Kunstmuseum Linz (2021-2022) zu sehen.
[6] VALIE EXPORT, zitiert nach Anita Pramer, Valie Export. Eine multi-mediale Künstlerin, Wien 1988, S. 54.
[7] Caroline Lillian Schopp, „Feminist In-Action – Ingrid Wiener’s Tapestry Collaborations“, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 68, Oktober 2020, S. 52–73, hier S. 54. Vgl. hierzu auch Schopps in Kürze erscheinendes Buch In-Action: Viennese Actionism and the Passivities of Performance Art (2025).