Postcard from the Publisher, oder Rezensionen Anderer
von Leonie Huber
Schreibe ich hier, in meinem ersten Beitrag für dis/claim, das Online-Magazin, das ich 2022 gegründet habe, über das Genre des Reiseberichts und die diesjährige Ausgabe des Wiener Galerienfestivals curated by, schreibe ich auch über einen Modus des Kurzaufenthalts, der meiner Erfahrung der Stadt, aus der ich letztes Jahr weggezogen bin, seitdem entspricht. Dass ich die Urteile anderer analysiere, anstatt selbst eine genrekonforme Rezension zu verfassen, hat ebenso mit meinem Interesse an gegenwärtigen Formen von Kunstkritik zu tun, wie mit meiner eigenen Einflussangst: Mich von dem Einfluss anderer Texte zur Kunst nicht freischreiben zu können, oder immer wieder gegen etwas anzuschreiben, dass sich meiner Einflussnahme, seit ich nicht mehr in Wien wohne, zunehmend entzieht. Ersteres scheint mir, sich bewahrheitet zu haben und letzteres kann ich vermutlich einfach nicht lassen.
Pressekonferenz
In roter Schreibschrift ist auf die Jutebeutel, die bei der Pressekonferenz zur diesjährigen Ausgabe von curated by verteilt wurden, gedruckt „The festival with international curators in Vienna“. Die Kombination aus zartem Schriftbild und Alarmfarbe suggeriert eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem Slogan. Mit dem Ziel, der Wiener Kunstszene zu internationaler Sichtbarkeit zu verhelfen, werden seit der Gründung des Festivals 2009 jedes Jahr internationale Kurator:innen eingeladen, Ausstellungen in ausgewählten Galerien in Wien zu kuratieren. Großzügig unterstützt wird das Event von Stadt und Bund. Neben internationalen Gästen wurden in diesem Jahr auffallend viele Ausstellungen von österreichischen oder Kurator:innen aus dem deutschsprachigen Ausland kuratiert. Sie alle versammelten sich zum Auftakt des Eröffnungswochenendes in den für vorbeispazierende Passant:innen gut einsehbaren Räumen der österreichischen Kulturagentur Phileas am Ring. Ebenfalls anwesend waren Pressvertreter:innen, die teilweise wie ich im Rahmen einer Pressereise für das Festival angereist waren.
Neben lokalen Künstler:innen und internationalen Kurator:innen begegneten sich also auch lokale Kurator:innen und internationale Autor:innen, die über die Veranstaltung schrieben. Dass deren Texte vermehrt die Form von Reiseberichten annehmen, ist kein Wiener Phänomen, doch fällt dieses Subgenre, in dem Kunstkritik mit einer Erzählung des persönlichen Erlebens einer Stadt angereichert wird, in der österreichischen Hauptstadt auf besonders fruchtbaren Boden: die im Vergleich zu anderen europäischen Kunstmetropolen relativ periphere Lage, eine durch umfassende öffentliche Förderung florierende Szene für zeitgenössische Kunst und nicht zuletzt die Tatsache, dass Wien mehrmals zu der lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde, machen die Stadt zu einer beliebten Destination für Kunstkritiker:innen und einem interessanten Thema für internationale Leser:innen.
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Ihr eilt nicht der Ruf voraus, dort eine Kunstszene am Puls der Zeit vorzufinden, sondern eine Auszeit von den vom erodierenden Sozialstaat und Raubbau betreibenden Kapitalismus gebeutelten Metropolen genießen zu können. So ruft der in New York lebende Theo Belci, Redaktionsassistent bei Artforum, bereits im ersten Satz seiner Rezension des diesjährigen Wiener Kunstherbsts eines der vielen Klischees auf, das Wien anhaftet: „If the world is ending, I will move to Vienna. Everything happens there fifty years later.”[1] Wie schnell die viel beschworene, ewige Gestrigkeit der Stadt in das Gegenteil eines Marketinginstruments kippen kann, zeigt die These, die Manhattan Art Reviews Sean Tatol zu Beginn seiner „Postcards from Mitteleuropa“ aufstellt (wobei er nicht zwischen Wien und Zentraleuropa at large differenziert): „What felt fresh a dozen years ago is now moldering, and visiting this time capsule doesn’t feel like a utopian enclave but nightmare of repressed consciousness that refuses to acknowledge is feeble irrelevance.“[2] Symptome dieses verdrängten Bewusstseins sind, laut Tatol, ein wahnhafter Optimismus und ein naives Vertrauen in Signifikation, das sich auf Kritik durch Dekonstruktion von Sprache stützt und auf identitätspolitische Argumente beruft.[3] (Möglicherweise bestätige ich seine Diagnose, wenn ich für meine Argumentation Textpassagen heranziehe und mich für ein situiertes Urteil ausspreche.)
Könnte die Rückschrittlichkeit des Standorts Wien, die Belci und Tatol ihren Berichten über curated by voranstellen, darin bestehen, dass sie hier ein Modell künstlerischen Arbeitens vorfinden, das andernorts bereits passé ist? Finanzierbarer Wohn- und Arbeitsraum und öffentliche Förderungen ermöglichen einer Vielzahl von österreichischen Künstler:innen eine vergleichsweise unabhängige künstlerische Produktion. Diese komfortable Situation erlaubt ihnen die Marktaktivitäten sowie institutionelle Entwicklungen und Diskurse weitestgehend zu ignorieren und stattdessen in und für den eigenen Kontext zu produzieren. Wie Belci schreibt: „While I was visiting the city […] Vienna was more extratemporal than anachronistic – not behind the times, but outside of them completely.”
Medienschau
Ein Event wie curated by ist untrennbar mit der Internationalisierung und Ökonomisierung des Kunstfelds seit den 1990er Jahren verbunden. Der spezifische geografische, kulturelle und politische Kontext tritt dabei in den Hintergrund, um die Vergleichbarkeit – im Sinne der Austauschbarkeit und Handelbarkeit von Waren auf dem Markt, aber auch als Voraussetzung für ein kunstkritisches Urteil – unter Hervorhebung lokaler Besonderheiten zu gewährleisten, wie sie in dem Genre des Reiseberichts kultiviert wird.
Unterscheidet Belci die im Rahmen von curated by realisierten Ausstellungen schematisch in „exhibitons with clear curatorial concepts“ und „shows organizing intutively through networks of influence and association“, benennt er zwei Strategien, wie auf das Festivalformat und die „fragmentierte Subjektivität“ – das Thema der diesjährigen Ausgabe – reagiert wird. Auf der einen Seite die Affirmation des institutionalisierten Kunstsystems – also thematisch stringente Ausstellungen mehrheitlich von Kurator:innen von Kunstvereinen aus dem deutschsprachigen Ausland verantwortet (Lombardi – Kargl, Christine König, Shore Gallery), die gewissenhaft auf die Themenstellung reagieren und eine essayistische Ausstellung konzipieren. Auf der anderen Seite diejenigen Ausstellungen, die in Differenz zu der Galerie-Kunstverein-Museum-Pipeline operieren und in diesem Jahr vorrangig von österreichischen Künstler:innen kuratiert wurden (City Galerie Wien/Layr, Felix Gaudlitz). Hier wird eine Netzwerklogik offen zur Schau getragen, innerhalb derer Bedeutung formal oder durch persönliche oder professionelle Affiliation generiert wird.
Diese unterschiedlichen Ansätze, die auf dem Spektrum von der Reproduktion etablierter Bewertungsschemata und deren „Subversion“ durch Subjektivität und die Performanz des eigenen Netzwerks angesiedelt sind, spannen die Rezensionen nicht nur argumentativ auf, sondern bilden sie auch formal ab. Die Form ist dabei unter anderem auf das Profil der unterschiedlichen Medien zurückzuführen. Artforum publiziert eine genrekonforme Rezension ausgewählter Ausstellungen, Manhattan Art Review gonzo-Kunstkritik und bei PROVENCE beginnt der „Letter from the Editor [from Vienna]“ mit: „On the second evening of my trip I’m sitting in the Loos Bar, pressed between two friends who happen to share the same first name, M. and M.“[4] Was diese unterschiedlichen Spielarten des Reiseberichts verbindet, ist eine zeitliche Begrenzung (des Aufenthalts der Autor:in und des Ereignisses, über das berichtet wird), eine in der subjektiven Erfahrung innerhalb dieses Zeitraums begründete Beurteilung des lokalen Kunstfelds, und – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – eine szenische Schilderung des Ortes, sozialer Begegnungen, und österreichischer Kulinarik.
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In dem Artforum-Artikel findet sich zum Beispiel kein Hinweis darauf, ob der Autor morgens in seinem Hotelzimmer Sport gemacht hat, wohl aber dass er die curated by Afterparty besucht hat („Photo: the author“) und bei der Eröffnung der Messe vienna contemporary wenige Tage später bereits bestens in der Wiener Szene vernetzt war und deren Hang zum Nepotismus erahnte: „Other familiar faces from the week of openings avoided the ‚topical’ presentation entirely, instead congregating among the bustle of the emerging galleries section, curated by none ofter than Antonia Lisa Orsi.“ Der Eventcharakter, dem das Genre Rechnung trägt, ist bereits in dem Format des Festivals angelegt, das zur Pressereise einlädt. Der Reisebericht erlaubt zudem den Schreibauftrag zu erfüllen, ohne wie bei einer Rezension in die Verlegenheit zu kommen, mögliche Kritikpunkte begründen zu müssen. Indem der Text die Struktur des Ereignisses formal doppelt, tritt diese in den Vordergrund, ohne jedoch problematisiert zu werden. Eine Ausnahme ist hier Theresa Zwerschke, die in Arts of the Working Class schreibt: „Attendance at the festival not only to see the art, but also to be seen by colleagues, curators, gallerists, and artists flown in for the occasion becomes reflective as a symptom of the current condition of the contemporary subject.“[5]
Ausstellungsrundgang
Zwei Ausstellungen zogen die Aufmerksamkeit der Wiener:innen und von Belci, Tatol et alii auf sich. Unter dem die exzessive Logik der Unternehmung bereits andeutenden Titel „Telepathy Curating presents: Teases and Synthesis; Empty Threats, Vienna Love and Anxiety Reality Paradoxes“ kuratierten Kristoffer Karlsen und Josef Strau in zwei Galerien eine sechzig Personen starke Gruppenausstellung. Der sich in der messeartigen Ausstellungsarchitektur bei Layr entspannende Parcours setzte sich einige Straßenecken weiter bei City Galerie in zwei kleinen Räumen mit unebenen Wänden fort. Das eigene Konzept wird mit Ironie auf Distanz gehalten, wenn es im Ausstellungstext zunächst heißt: „will show some friends in two very distinctively influential Viennese galleries“ und dann von „the complex artist list“ die Rede ist. Für Tatol ist dieser „indifferent pileup of 70 of the curators’ closest friends remarkably successful, because brainlessly curating out your social connections can be a legitimate organizing logic if your friends are all in the right quadrat of the international art chiller network“. Dass die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk den Erfolg und die Attraktion der Ausstellung ausmachte, steht außer Frage. Da sich die Rezeptionshaltung deshalb allerdings allzu leicht in einem zwischen Affirmation und Neid (teilweise als eine halbherzige Kritik an der hier offen zur Schau gestellten Einladungspolitik getarnt) changierenden Sentiment erschöpfte, geriet ein viel wesentlicher Aspekt von „Telepathy Curating“ aus dem Blick.
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Das Organisationsprinzip „Freundeskreis“ funktioniert hier über drei Räume hinweg: die als Messehalle umfunktionierte Ausstellungsfläche einer international operierenden Galerie, die benachbarten Räume einer lokalen Punk-Galerie und eine als „third space“ bezeichnete Location – ein Künstler:innenatelier auf der Einkaufsmeile Mariahilfer Straße, wo an jedem Abend des Wiener Kunstherbsts Konzerte, Performances und Partys stattfanden. Dort gab es von dem curated by Eröffnungswochenende bis zum Ende der in der darauffolgenden Woche stattfindenden Kunstmessen jeden Abend Programm, das sich an ein Publikum richtete, das länger als nur ein paar Tage in der Stadt war. „Telepathy Curating“ demonstrierte, wie der Kontext einer Ausstellung performativ beliebig umgedeutet werden kann, sich die gezeigten Werke durch ihre Zugehörigkeit zu einem diskursiven Netzwerk von der Kunstökonomie im Hintergrund – durch die Ausstellungsarchitektur bei Layr sogar noch plakativ in Szene gesetzt –, abheben können. Das scheint mir die Pointe des Streichs zu sein, den die Show ihrem Publikum zu spielte – wie Tatol schreibt, „the show is playing a trick on me rather than it’s exhibiting art well“.
Es mag an der besonderen Form der Geschichtsvergessenheit bei gleichzeitiger Affirmation von Mythenbildung einer jüngeren Wiener Generation liegen, – als Reaktion auf „broader and more generally cultural stagnation“[6] zwar nachvollziehbar, aber wenig originell – dass dieser Ausstellung „mit wohlwollendem Interesse getragener Ratlosigkeit“[7] begegnet wurde. Doch wären es vor allem die Studierenden und Absolvent:innen der Wiener Kunstuniversitäten, in deren Curriculum Strau fest verankert ist, die die Kapazitäten und Kompetenz mitbringen, um die „Fäden, die in der Ausstellung gelegt werden“[8] zu entwirren, während man sich in Artforum mit dem Fazit begnügen muss „the show’s size procluded a definitive reading“. Aber eine in Wien kultivierte, sich selbst schnell genügende Rezeptionshaltung scheint in der Faszination für den „als ‚künstlerische Subjektivität’ oder ‚Autonomie’ konnotierender Effekt“[9] zu münden und dabei jegliche diskursive, strukturelle oder ausstellungspolitische Dimension einer Schau wie „Telepathy Curating“ ignorieren zu wollen. Was heißt es zum Beispiel, wenn der Signifikant Strau auf den Signifikant Karlsen trifft? Also die in den 80er und 90er Jahren in Köln und Berlin geschmiedete Kultfigur Strau auf den gerade 30 Jahre alten Rapper („Cezinand“) und Betreiber des Labels und Ausstellungsraums Borgenheim Rosenhoff in Oslo Karlsen. Was passiert, wenn diese beiden Bedeutungszusammenhänge miteinander verschmelzen?
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Um diese Frage zu beantworten, bietet sich ein Vergleich zu der Ausstellung bei Felix Gaudlitz an, die von den Künstler:innen Anna-Sophie Berger und Benjamin Hirte kuratiert wurde. Wie Karlsen betreiben die beiden einen Offspace und wie Strau sind sie im Programm von Layr, verfügen also über ein vergleichbares Netzwerk und Kenntnisse des Kunstsystems. Bereits im Titel war die Ausstellung „The Artists Alone Decide“ wesentlich direkter als „Telepathy Curating“. Die Subjektivität der Künstler:innen wurde hier nicht parapsychologisch ausgedeutet, sondern in Abgrenzung von „the artist’s primal bondage“ als die Behauptung künstlerischer Freiheit ins Feld geführt. Die den künstlerischen Schaffensprozess und Urformen aufrufende Ästhetik der Ausstellung legt die Vermutung nahe, dass hier weniger eine gewisse Phase in der Entwicklungsgeschichte eines oder einer Künstler:in aufgerufen wird als vielmehr ein Moment in der jüngeren Vergangenheit, in dem die Vermittlung und Verschlagwortung des erweiterten Kontexts eines Werks noch nicht die dominante Form der Kommunikation mit den Betrachter:innen war. Im Unterschied dazu kann die „unmittelbare“ Begegnung zwischen Künstler:in und Betrachter:in laut Ausstellungstext zwei Formen annehmen: „pretentious and cringe“[10]. Auf diesen Nexus reagierten Berger und Hirte mit einer ein vergleichendes Sehen anregenden, abstrakte Bezüge ermöglichenden und allem voran eine bestimmte Atmosphäre erzeugenden Präsentation. Im Ergebnis war das tatsächlich weder prätentiös noch beschämend, allerdings unmissverständlich cool. Zeitgleich zu der Show bei Gaudlitz eröffneten die beiden eine Einzelausstellung von Carissa Rodriguez bei Can, dem von den Künstler:innen betriebenen Offspace, der auch die Autor:innenschaft für die Kuration in der Galerie trug.
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Die Frage nach der Beziehung zwischen dem Netzwerk der Künstler:innen und dem Kontext einer Ausstellung, stellt sich auch hier. Wenn sich Berger/Hirte ebenso wie Karlsen/Strau in ihren Ausstellungen vor allem von kuratorischen Konzepten (und den diese zuletzt bestimmenden identitätspolitischen Diskursen) abgrenzen, geschieht das zunächst unter dem Vorzeichen einer anderen Generation – die Galerie Meerrettich und Can trennen 20 Jahre Globalisierung und Gentrifizierung. „Telepathy Curating“ ist ein Revival des Erfolgsrezepts einer Gruppe hohes symbolisches Kapital und freundschaftlich-professionelle Beziehungen in der Kunstwelt genießenden Künstler:innen (erweitert um eine Handvoll lokaler Positionen und solcher aus dem Umfeld von Borgenheim Rosenhoff), was ihnen ermöglichte über Jahrzehnte diskursiv anspruchsvolle Ausstellungen zu realisieren – ein Innen im Außen zu finden. „The Artists Alone Decide“ lässt sich hingegen eher als Außen im Innen beschreiben: Seitdem Can 2023 in Wien eröffnet hat, werden dort Ausstellungen internationaler Künstler:innen verschiedener Generationen gezeigt, die eine große Bereicherung für die oftmals in ihrer Nabelschau versunkene oder stumpfsinnig eine Contemporary Art Daily Ästhetik reproduzierende Offspace Szene in Wien darstellen. Dass die externen Impulse, die Berger und Hirte nach Wien bringen, allerdings keine abseitigen Positionen sind, wird deutlich, wenn Tatol schreibt: „I assumed I would casually like this since Can works with a lot of people I know and I’m familiar with a good portion of these artists“. In der heute stark segmentierten und gleichzeitig vernetzten Kunstwelt ist die Unterscheidung von Außen und Innen also immer vom Standpunkt und Kenntnisstand der Betrachter:in abhängig.
Reisebericht
War die Gründung des Galerienfestivals 2009 Ausdruck einer Konjunktur des Kuratorischen in einem sich nach der Finanzkrise vom Merkantilen abwendenden Kunstfeld, scheinen diese beiden besonders zeitgemäß anmutenden Ausstellungen heute der Prämisse von Diskurs und Vermittlung den Rücken zugekehrt zu haben. Auch dieser Rückzug in auf ästhetischen Affinitäten beruhenden Netzwerken, die durch gegenseitige Unterstützung ein hohes Maß an Sichtbarkeit erlangen, ist kein Wiener Phänomen. Doch die im Sinne der Avantgarde formal anspruchsvolle und exklusive Logik knüpft in Österreich an eine lange Tradition an und wird durch die eingangs skizzierten Produktionsbedingungen zusätzlich begünstigt. Die künstlerische Qualität, die geteilte Interessen und ein gemeinsamer Kontext hervorbringen können, wurde auch von externen Beobachter:innen wahrgenommen. So resümiert Belci: „At Hirte and Berger’s two shows, one sees the Viennese ecosystem at its best – small, artist-oriented spaces create relationships with local and international artists, then connect them with other like-minded people in Vienna, making the city a hub for generative, non-professionalized exchange.“
Es sind diese von Künstler:innen betriebenen Räume, die in Wien für einen stetigen internationalen Austausch sorgen und von der Kulturpolitik gefördert werden. Hier kommen die Gäste manchmal sogar von weiter weg als München oder Zürich. Das so entstehende Netzwerk von Gleichgesinnten mag nicht auf dieselbe Art und Weise professionalisiert sein, wie Ausstellungen von institutionell angebundenen Kurator:innen, aber was in diesem Hub generiert wird, sind nicht nur Nischendiskurse, sondern auch Karrieren, die parallel zum kommerziellen und institutionellen Kunstbetrieb verlaufen. In zahlreichen artist-oriented spaces dieses Ökosystems wird das Versprechen kultiviert, Kunst frei von kuratorischer oder politischer Einflussnahme zu zeigen. Allzu leicht werden dabei die strukturellen Einflüsse auf das eigene Tun übersehen. So kann einerseits der Mythos der Nicht-Professionalität der Räume und ihrer Betreiber:innen aufrechterhalten werden, der einen selbstgenügsamen Umgang mit der eigenen Einflussangst ermöglicht: das verdrängte Bewusstsein über den Einfluss des Kunstsystems auf die eigene künstlerische, kuratorische oder kunstkritische Arbeit, bei gleichzeitiger omnipräsenter negativer Einflussangst, andere durch das eigene Tun – im Atelier oder der Bibliothek, wo dir jemand über die Schulter schaut, oder auf der Eröffnung, wo du unverhohlen die Augen rollst – zu beeinflussen oder sich Chancen zu verbauen. „Telepathy Curating“ und „The Artists Alone Decide“ setzten diese in Wien kultivierte Künstler:innen-orientierte Ausstellungspolitik in ein produktives Spannungsverhältnis zu den Prämissen von curated by: das Internationale, das Kuratorische und das Vermarktbare. Für Gäste aus New York, wie Belci und Tatol, ist das interessant und zeitgemäß – es entspricht dem „market cynism“ und der Ablehnung von Didaktik, die sie sich wünschen. Dass diese allgemeine Tendenz, unter anderen Vorzeichen ein lokales Phänomen ist, vermittelt sich bei einer Pressereise nicht. In Wien erfolgt der Rückzug in geschlossene Netzwerke allzu oft aus Bequemlichkeit und in dem Bestreben, in diesen seinen eigenen Einfluss auszubauen. Es wäre wünschenswert, wenn die Ausstellungen bei Layr/City Galerie und Felix Gaudlitz über ihre Laufzeit hinaus eine Auseinandersetzung in Wien anstoßen könnten, wie das Primat von künstlerischer Selbstbestimmung und Netzwerkdenken mit dem diskursiven und kulturpolitischen Kontext einer Ausstellung in einem sich nicht nur gegenseitig affirmierenden Verhältnis stehen kann.
„Telepathy Curating presents: Teases and Synthesis; Empty Threats, Vienna Love and Anxiety Reality Paradoxes“, Bogdan Ablozhnyy, Altroy, Mariia Andreeva, Ruth Angel Edwards, Ethan Assouline, Fabienne Audéoud, Perfect Blue, Merlin Carpenter, Juliet Carpenter, Nicolas Ceccaldi, Olivia Coeln, Courtesy, Keren Cytter, Albert Dietrich, Michaela Eichwald, Chloe Elgie, Elin, Marius Engh, Balearic Eric, Hélène Fauquet, Marie Yaël Fidesser, Zoë Field, Genoveva Filipovic, Stina Fors, Nik Geene, Evan Jose & Simon Glaser, Julia Haller, Hannah Hansel (Flower Crime), Katharina Hölzl, Christian Ingemann, Kristoffer Karlsen, Gretchen Lawrence, Paul Levack, Mel E. Logan, Mathieu Malouf, Chloée Maugile, Jonathan Meese, Birgit Megerle, Bjarne Melgaard, Tomás Nervi, Laurids Oder, Marysia Paruzel, Evelyn Plaschg, Philipp Quehenberger, Isak Ree, Public Reptile, SALARY, Anne Schmidt, Sydney Schrader, Nora Schultz, Calle Segelberg, Heji Shin, Nino Stelzl, Josef Strau, Superskin, Dominik Szereday, Eirik Sæther, Stefan Tcherepnin, Octavian Trauttmansdorff, Universal Studio, Bernadette Van-Huy, Wounder, Oren Yehoshua (DJ Yeriho), Morag Keil & Bedros Yeretzian, Nina Zeljkovic, Julia Znoj, Roger van Voorhees, Leonard van Vuuren, curated by, kuratiert von Kristoffer Cezinando Karlsen und Josef Strau, City Galerie Wien und Layr, Wien, 9. September bis 18. Oktober 2025.
„The Artists Alone Decide“, Edward Dean & Matthew Linde, Flora N. Galowitz, Bradley Kronz, Hans-Christian Lotz, Simon Lässig & Vera Lutz, Teak Ramos, Nora Schultz, Pol Summer, curated by, kuratiert von Can, Felix Gaudlitz, Wien, 9. September bis 31. Oktober 2025.
[1] Theo Belci, „Telephathy Curating“, Artforum, 29. September 2025.
[2] Sean Tatol, „Letters from Mitteleuropa“,Manhattan Art Review, September 2025.
[3] Bei einem Talk während des Eröffnungswochenendes von curated by führte Tatol gemeinsam mit Mohammad Salemy unter der Überschrift „Contemporary Art’s Need For History“ die von ihm diagnostizierten Probleme der Gegenwartskunst unter anderem auf überholte Studieninhalte zurück. Dass die genannten Beispiele für das Fehlen von kunsthistorischen Inhalten in BFA und MFA Studiengängen alle aus dem US-amerikanischen Kontext kamen, der sich auf Wien mit seinen Diplomstudiengängen nur bedingt übertragen lässt, tat dem absoluten Anspruch des Arguments keinen Abbruch. Welche Rolle strukturelle oder materielle Gründe für die offenkundige Irrelevanz der Kunstgeschichte für die Praxis jüngerer Künstler:innen, die an diesem Abend die Mehrheit des Publikums in dem Offspace Pech spielten, war dabei scheinbar sekundär. Die Professionalisierung der Offspace Szene, wie sie sich seit den 2010er Jahren in Zentraleuropa (inklusive des „mitteleuropäischen“ Wiens) beobachten lässt und die eine kritische Reflexion von künstlerischen Praktiken durch den Imperativ von Social Media Präsenz, Networking und die Erfüllung von Förderkriterien ersetzt, als Grund für den „Präsentismus“ weiter Teile zeitgenössischer Kunst zu nennen, wäre hier zielführender und naheliegender gewesen.
[4] „Letter from the Editor“, PROVENCE, 13. September 2025.
[5] Theresa Zwerschke, „Distracted Attention“, Arts of the Working Class, 22. September 2025
[6] Ausstellungstext, „Telepathy Curating presents: Teases and Synthesis; Empty threats, Vienna Love and Anxiety Reality Paradoxes“, City Galerie Wien und Layr, Wien, 9. September bis 18. Oktober 2025.
[7] Matthias Poledna „Überschüsse, Mehrwerte, Rest“, Ausstellungsrezension Josef Strau, kunstbuero 1060, Wien, 23. Januar – 14. Februar 1998, in: TEXTE ZUR KUNST, 30, Juni 1998, S. 161–168.
[8] Poledna 1998.
[9] Ebd.
[10] Ausstellungstext, „The Artists Alone Decide“, Felix Gaudlitz, Wien, 9. September bis 31. Oktober 2025.