Neugebaute Einstürze
von Simon Nagy

Über das Bauen von Ruinen, die privatisierte Abschaffung von Privatraum und fatales Denken in Prototypen erzählt die Ausstellung Solid Roof, Severe Weather. Von 4. November bis 18. Dezember 2021 war sie in der Kunsthalle Exnergasse zu sehen. Mit Olena Newkryta, die die Ausstellung gemeinsam mit Marlene Maier kuratiert hat, verbindet mich eine langjährige Freundschaft, die ihren Anfang im Austausch über ihre künstlerische Arbeit genommen hat. Der Kontext von dis/claim bietet die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit der Ausstellung, die sich nicht als Freundschaftsdienst oder Dienstleistung versteht. Sie begreift sich vielmehr als Versuch, die Erzählungen der versammelten Arbeiten mit Konzepten nicht-linearer Zeitlichkeiten zusammenzuführen, die mich aktuell beschäftigen.





     Im letzten Lied auf dem Debütalbum von Black Country, New Road findet sich die Zeile „What we built to keep ourselves warm“. Jedes Mal, wenn sie als der verlässliche Ohrwurm, der sie ist, in meinem Kopf abgespielt wird, lautet sie allerdings „What we built to keep ourselves dry“. In dem Verhörer steckt ein ganzes Haus. Wärme legt schließlich gut isolierte Wände nahe, während Trockenheit ein abgedichtetes Dach evoziert. Die traurige Trägheit des mehr lamentierten als gesungenen Texts lässt wenig Zweifel daran, dass das, was von dem vagen „we“ gebaut wurde, nicht standgehalten hat.
     In der Ausstellung Solid Roof, Severe Weather ist beides prekär, Wände wie Decke. Fünf Video-Leinwände schweben im ansonsten fast ganz leer gehaltenen Raum, mehr oder minder parallel zu den Wänden. Die weißen Flächen erscheinen selbst wie die Wände eines unfertig gebauten Hauses, die klaffenden Lücken zwischen ihnen breiter als sie selbst. Fünf Metallsteher, unregelmäßig im Raum verteilt und zwischen Boden und Decke geklemmt, unterstützen die drei tragenden Säulen, die längs der Mitte der Kunsthalle Exnergasse verlaufen, und ziehen somit das Solid Roof des Titels bereits in der Ausstellungsarchitektur in Zweifel. Fernab jeder Solidität scheint die Behelfskonstruktion aus schmalen Stehern dafür Sorge tragen zu müssen, dass der Raum nicht einstürzt und die schwebenden Wandsegmente unter sich begräbt.
     Um fragiles Bauen, um unzuverlässige Verhältnisse zwischen Überbau und Basis, um moderne Ruinen kreisen auch die audiovisuellen Arbeiten der Ausstellung. Die geteilte Erzählung der vier Videoessays, zwei Bilderserien und des Audiowalks setzt an bei eingestürzten sowjetischen Hoffnungen und reicht bis zu gegenwärtigen Fantasien von Smart Citys. Indem die Arbeiten ihren Fokus allesamt auf gebaute Räume legen, rücken sie die wortwörtliche Konstruktion von imaginären Zukünften ins Zentrum der Auseinandersetzung – gemeinsam mit der Frage, welche dieser Zukünfte sich vielleicht bereits vor ihrem Eintreten als Ruinen erkennen lassen. 


Ruinen bauen

     Die Ruinen, um die es geht, haben nichts mit verfallenen Burgen inmitten idyllischer Landschaften zu tun, auf die Familien im Zuge von Sonntagsausflügen klettern. Olena Newkrytas Film Ruins in Reverse beschreibt das Objekt des Interesses als „the opposite of the romantic ruin[:] the buildings don’t fall into ruin after they are built but rather rise as ruins before they are built“.
     Konkret kreist Ruins in Reverse um einen leerstehenden sowjetischen Wohnbau, der in seiner Massivität hochgradig deplatziert in der südukrainischen Steppe thront. 1988 fertiggestellt, wohnt seinen standardisierten Grundrissen noch das Versprechen einer sozialistischen Organisation von Wohnen, Arbeit und Gemeinschaft inne. Als Wohnhaus dient die sogenannte Chruschtschowka vierzehn Jahre lang, dann wird sie dem Verfall preisgegeben; die ihren Ziegelsteinen innewohnenden Versprechen sind zu dem Zeitpunkt durch den globalen Siegeszug des Neoliberalismus längst zu Grabe getragen worden. Der Videoessay begleitet den Versuch der Künstlerin, die Ziegel der Chruschtschowka als mit Spuren vergangener Zukünfte aufgeladene Elemente zum Bau neuer Infrastrukturen zu nutzen; Infrastrukturen, die, wie der Film zeigt, gleichfalls nicht davor gefeit sind, noch im Laufe ihrer eigenen Konstruktion den Charakter des Ruinenhaften anzunehmen.
     Auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres, ebenso wie auf der anderen Seite des historischen Markers ’90/91, ist Tekla Aslanishvilis Film Scenes from Trial and Error angesiedelt. Er erzählt von dem georgischen Fischerort Anaklia, der seit 2016 von einem Joint-Venture-Konsortium verwaltet wird. Dessen Ziel lautet, aus Anaklia nicht nur eine Smart City, sondern eine „totally private city“ zu machen. Die Smartness, die deregulierte neoliberale Projekte wie das hier behandelte versprechen, wird im Film als rein destruktive, menschen- wie umweltfeindliche Kraft offengelegt: Die Arbeiter:innen, die Anaklia City bauen, sind ohne Mindestlohn und ohne jede Absicherung beschäftigt; der geplante Tiefsee-Hafen erfährt als umweltzerstörerisches Megaprojekt massive Kritik; und die privaten Investitionen erscheinen so plan- und zukunftslos, dass in der Realität kein Funke des Versprechens von Innovation überlebt. Scenes from Trial and Error dokumentiert die von Großkapital finanzierte Restrukturierung des Fischerortes auf eine Weise, die das Gefühl vermittelt, gerade dem gezielten Bauen künftiger Ruinen beizuwohnen.
     Die imaginären Zukünfte, über die beide Filme anhand architektonischer Projekte erzählen, finden Widerhall im Titel des Buches Imaginary Futures von Richard Barbrook aus dem Jahr 2007. Barbrook stellt darin die Frage, an welchem historischen Punkt sich gesellschaftlich geteilte Vorstellungen zukünftigen Lebens radikal von den tatsächlichen politisch-ökonomischen Entwicklungen ihrer Zeit entkoppelt haben. Das Buch zeichnet nach, wie sich als Ergebnis dieser Entkopplung, deren Beginn Barbrook mit der New Yorker Expo 1964 ansetzt, die konventionellen Bilder einer besseren Zukunft im letzten halben Jahrhundert erstaunlich wenig verändert haben. Die großen Nachkriegsversprechen des sogenannten Westen, nämlich Automatisierung, Raumfahrt für alle und kostenfreie Energiegewinnung, bilden auch heute noch den Horizont zahlreicher Hoffnungen einer nahen und guten Zukunft. Ihrer (demokratischen) Realisierung arbeiten globale ebenso wie lokale Besitzverhältnisse mit voller Kraft entgegen. An ebendiesem widersprüchlichen Zustand einer unablässig von Fortschritt sprechenden Gegenwart, die die Bausteine zur Konstruktion der erstrebten Zukünfte beständig selbst zermahlt, finden sich die beiden anderen Film-Arbeiten der Ausstellung Solid Roof, Severe Weather angesiedelt.


Ungedeckelte Räume

     Marlene Maiers Videoessay I could tell you, but then you would know besteht aus Found Footage urbaner Räume privatisierter Einsamkeit: von Floating Tanks über vollautomatisierte Stundenhotels bis zu jenen winzigen mietbaren Kabinen in Japan, die zum Arbeiten, Schlafen oder auch für soziale Treffen genutzt werden. Sie alle unterliegen einem Geschäftsmodell, das „the illusion of a private space“ verkauft. Im vollständig privatisierten Universum, das dieser Film abdeckt, wird deutlich, dass Privatheit – und vor allem Privatraum – keineswegs nur zugenommen hat, sondern in vielen Bereichen sogar prekär geworden ist und, so wie alles andere, in kleinen Stücken erkauft werden muss. Marx und Engels bemerken bereits im Kommunistischen Manifest, dass die Entwicklung der kapitalistischen Industrie, anstelle Privateigentum zu produzieren oder gar zu beschützen, es für den allergrößten Teil der Menschen faktisch abschafft. An einem späteren Punkt in Maiers Arbeit dehnt sich der illusionäre Privatraum aus zu einem „virtual space without a ceiling“. In dieser Abschaffung des „ceiling“ kündigt sich eine ebenso grenzenlose wie ungreifbare Zukunft an. Sie ist als bedrohlich nahe Aussicht zu verstehen – als diejenige Zukunft, deren Einbruch die fünf die Decke stabilisierenden Metallsteher vor Ort im Ausstellungsraum zu verhindern suchen.
     In Manu Luksch’ Zweikanal-Videoinstallaton Third Quarterly Report wird ebendiese Zukunft schließlich als bereits eingelöste vorgeführt. Der Film kreist um die fiktive Videokonferenz eines Telekommunikationsunternehmens, in der über das dritte Quartal einer nicht näher benannten Smart City Bilanz gezogen wird. Inszeniert-dokumentarische Aufnahmen wechseln sich mit Point-Cloud-Mappings der Konferenzsituation ab. Die beiden Darstellungsweisen suggerieren auf unterschiedliche Weise den Anschein von Realismus und sperren sich zugleich dagegen, Substantielles über die Situation preiszugeben. Es ist für die Zuseher:innen etwa gänzlich undurchsichtig, in welcher Rolle das Unternehmen gegenüber der von ihm offenbar mitverwalteten Stadt steht. Ebenso bleibt unklar, welcher politische Zustand aktuell herrscht und was die austauschbaren Formulierungen der Funktionär:innen tatsächlich für die Bewohner:innen der Stadt bedeuten. Im von Luksch arrangierten Zusammenfallen bis zur Inhaltslosigkeit instrumentalisierter Sprache mit unfassbar gähnender ästhetischer Leere – der Konferenzraum, von dem aus das Videotelefonat stattfindet, könnte nicht freier sein von Markern einer begehrenswerten Zukunft –, zeichnet Third Quarterly Report ein beklemmend naheliegendes Bild von der Hochglanz-Ästhetik aktueller Ruinenproduktion, die von sich als smart inszenierender Wirtschaft unternommen wird.


Not the real thing

     Bei Black Country, New Road heißt es in der Ohrwurm-Passage weiter: „What we built to keep ourselves warm / Burnt your hand and charmed the locals / All those mistakes laid out plainly“. Die Arbeiten von Solid Roof, Severe Weather erzählen zwar gleichfalls Geschichten dysfunktional gebauter Zukünfte, sie tun das allerdings nicht, indem sie „mistakes“ offenlegen. Stattdessen richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die durchwegs so intendierten Infrastrukturen unserer Gegenwart, keineswegs also auf Fehler, sondern auf geplante Normen. Das Sprechen über Utopien und Dystopien, das im Hinblick auf imaginäre Zukünfte so nahe liegt, wird von den künstlerischen Arbeiten als reiz- und zahnlos offengelegt. Um Bilder „guter“ oder „schlechter“ Zukünfte mit den uns umgebenden Realitäten abgleichen zu können, müssen schließlich erst einmal Mittel erprobt werden, diese Realitäten, unsere Gegenwart, ästhetisch zu begreifen. Das Bild der Ruine hilft genau dabei: Es erlaubt, unsere Blicke auf die Orte aktueller Zukunftsproduktion zu richten, an denen deutlich wird, dass diese nicht auf Stabilität – im Sozialen, im Baulichen, im Gedanklichen –, sondern vielmehr auf die Ruinisierung bislang erkämpfter Geschichte hinausläuft.
     Shawn Maximos Bilderserie Deeprecession Station visualisiert diese Dynamik in überzeichneter Deutlichkeit: Computergenerierte Ansichten halb-archaischer, halb-postmoderner Konsumlandschaften in unterirdischen Höhlen stellen eine Zukunft aus, die vollständig in die Hände privater Unternehmen übergegangen ist und sich zugleich jedes Privatraums entledigt hat. Eine zu diesen Entwürfen passende Erzählung steckt in Michael Simkus Audiowalk Sonic Boom, der kybernetisches Smart-City-Vokabular mit Bildern desaströser Zerstörung vermengt. Sobald der Walk außerhalb des Ausstellungsraums gehört wird, überblenden sich die Soundscapes mit den Wiener Stadtgeräuschen und legen damit die Aufforderung nahe, nach Anzeichen ähnlich zerstörerischer Geschichten im eigenen Stadtbild Ausschau zu halten.
     In Scenes from Trial and Error von Tekla Aslanishvili bemerkt eine interviewte Forscherin, dass seitens der Investoren von Anaklia City der Ort ebenso wie die Ökologie der Gegend bloß als Prototypen, als „testbeds“ betrachtet werden, und nicht als „the real thing“: „There’s no other planet than this one that we are geo-engineering, and there’s no other city to live in, and yet, at the same time, we can treat it like it’s just a prototype or a version, which means we […] can stop worrying about the future and can say, let’s just build it, let’s try it out.“ Das konsequenzlose Denken in Prototypen ist zentraler Bestandteil einer Ideologie, die Zukunft auslöscht, indem sie sich bereits weigert, Gegenwart als solche anzuerkennen. In dieses Severe Weather spätkapitalistischer Raum-, Denk- und Zukunftsproduktion interveniert die Ausstellung, indem sie es als ihre Aufgabe begreift, Blicke sehr konkret auf „the real things“ zu lenken. Die drei großformatigen Fotodrucke von Peles Empire, die zwischen den Video-Leinwänden hängen und zusammenfallende künstliche Räume aufschichten, fordern solche auf konkrete Widersprüche gerichteten Blicke schließlich auch innerhalb des Ausstellungsraums ein – und uns als Besucher:innen auf, sie als Instrumente von Stadtbetrachtung mitzunehmen: als Instrumente, um ruinierende Ideologien als solche zu erkennen, gleich, wie smart sie sich zu inszenieren wissen.