Friends und Old Enemies
Über den Preis der Kunsthalle Wien 2023
Über den Preis der Kunsthalle Wien 2023
von Ramona Heinlein
Sich als Kunstkritikerin als neutrale, „unbefleckte“ Instanz zu begreifen ist angesichts des fest geschnürten Netzes an Abhängigkeiten und Naheverhältnissen im Kunstbetrieb ein absurder Reinheits-Mythos. Diese Review fühlt sich allerdings besonders dirty an. Schließlich war die Ausstellung Come As You Are schon im Entstehen, als ich mich entschied, meinen Job in der Publikationsabteilung der Kunsthalle Wien zu kündigen. Für die Begleitmedien der Ausstellung habe ich selbst noch Zeitpläne erstellt, Meetings abgehalten und mit Astrid Peterle (Kuratorin) und Hannah Marynissen (Assistenzkuratorin) Arbeit, Stress und Zigaretten auf dem Bürobalkon geteilt. Leonie Huber, die ich über eine gemeinsame Freundin und Kunstkritikerin kenne, hatte ich als freiberufliche Unterstützung für die Publikationsabteilung empfohlen – und als solche übernahm sie die Booklet-Projekte – darunter Come As You Are – nach meinem Weggang.
Eine Preisausstellung ist in erster Linie ein Versprechen. Aufmerksamkeit und institutionelle Absicherung winken nach den langen Jahren der Ausbildung. Sie ist eine Art Initiationsritus, der auf den Schutzraum der Kunstschule folgt und die Auserwählten zu Gewinner*innen erhebt in einer prekären Post-Universitäts-Realität, in der nur wenige Prozent der Absolvent*innen von ihrer Kunst leben können. Der Titel Come As You Are greift diese Verheißung auf: Die Abnabelung von der Ausbildungsstätte scheint erfolgt,[1] wie eine fürsorgende Mutter oder eine gute Freundin schließt eine*n nun die Institution mit Akzeptanz, Unterstützung und Ressourcen in die Arme – und alles wird gut? Da es sich bei dem Titel um eine Nirvana-Referenz handelt, ist nicht davon auszugehen, dass das Happy End so nahe ist, wie zunächst suggeriert. “Come as you are, as you were, as I want you to be. As a friend, as a friend, as an old enemy. Take your time, hurry up, the choice is yours, don’t be late.” Die Lyrics des Songs sind zutiefst ambivalent, fragen nach Selbst- und Fremdbestimmung, gesellschaftlichen Erwartungen, Performance-Druck und Abhängigkeiten. Wenn du dich nur genug anstrengst, kannst du es schaffen: Sei „authentisch“, just don’t be late – Musealität braucht schließlich Zeit(pläne), Kontrolle, Brandschutz- und Sicherheitsregulierung.
Als „systemimmanente Wertschaffung“[2] sind institutionelle Ausstellungen (genauso wie die Kunstkritik) Teil einer Aufmerksamkeitsökonomie, in der Unterscheidungen und Wertungen vorgenommen werden, Ausgrenzung und Diskriminierung inklusive. So auch der Preis der Kunsthalle Wien, mit dem jedes Jahr Absolvent*innen der Kunstuniversitäten ausgezeichnet werden und der für die Wiener Diplomand*innen von großer Bedeutung ist. Aus insgesamt 114 Positionen der Universität für angewandte Kunst und der Akademie der bildenden Künste wählte eine Jury[3] zehn Nominierte aus.[4] Nicht mehr als ca. fünf Minuten hatten die Künstler*innen zur Verfügung, um sich im Zuge der Präsentation ihrer Arbeiten beim Rundgang zu beweisen. Die Vorauswahl entscheidet ein erster Eindruck, der sicherlich auch vom Performance- und Präsentationsgeschick der jeweiligen Absolvent*in, von subjektiven Geschmacksurteilen der Jurymitglieder und aktuellen Trends abhängt.[5]
Als Gewinner*innen des neunten Preises der Kunsthalle Wien durchgesetzt haben sich Marielena Stark und Jusun Lee, die einen Geldpreis von je 3.000 EUR erhielten. Für die Ausstellung bekamen jedoch alle Nominierten – Željka Aleksić, Michael Amadeus Reindel, Anne Schmidt und Marc Truckenbrodt (Akademie der bildenden Künste) sowie Mila Balzhieva, Luisa Berghammer, Daniel Fonatti und Valentin Hämmerle (Universität für angewandte Kunst) – gleichviel Platz sowie das gleiche Produktionsbudget und Künstler*innenhonorar. Manche präsentieren Variationen ihrer Abschlussarbeit, einige schufen neue Werke. Die Schau wirkt ausgewogen, was künstlerische Medien betrifft, von Malerei, über Installation, hin zu Video, Textil, Skulptur und Publikation ist alles vertreten. Bewusst hat sich die Kuratorin Astrid Peterle erneut gegen einen thematischen Rahmen für die Gruppenausstellung entschieden, jede*r sollte frei sein, die Ausstellungsmöglichkeit für sich selbst zu nutzen. Dass die Zusammenschau dadurch disparat wirkt, liegt in der Natur der Sache.[6] Gleichzeitig werden die Werke der Künstler*innen so auch in ihrer Pluralität erlebbar. Die ausgezeichneten Künstler*innen beschäftigen sich mit reinen Form- und Materialexperimenten genauso wie sie zum Beispiel gesellschaftliche Männlichkeitskonzepte, Ruinen im urbanen Raum oder popkulturelle und kunsthistorische Referenzen aufgreifen.
Werke, die Gesellschaftspolitisches illustrieren, sind in der Ausstellung nicht vertreten. Ausgehend vom Persönlichen das Politische zu berühren, ist aber für viele der ausgestellten Arbeiten ein zentrales Anliegen. Zum Beispiel, wenn Mila Balzhieva anhand des innigen Dialoges mit ihrer Zimmerpflanze die Möglichkeiten von Beziehungen zwischen Spezies untersucht und dabei Posthumanismus mit Magie verbindet. Oder wenn Jusun Lee unzählige glitzernde Kettchen und Schnüre zu einem festen Netz verwebt, um die eigene Queerness zu feiern und zugleich die Notwendigkeit von Safe Spaces von gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen zu beschwören. Oder wenn Luisa Berghammer geteilte Autor*innenschaft und kollektive Prozesse innerhalb künstlerischer Arbeit zum Thema macht und ihre Nominierung bewusst nutzt, um weiteren Künstler*innen Sichtbarkeit und Wertschätzung zu verschaffen. Dass kreative Prozesse nie ein rein individuelles Unterfangen sind, sondern viele verschiedene Akteur*innen in der ein oder anderen Art an einem Werk mitwirken, ja, dass Arbeit nicht nur die physische Produktion eines Endprodukts meint, sondern auch emotionaler und intellektueller Natur ist, stellt die Künstlerin zusammen mit Quirin Babl, Zorah Berghammer und Luīze Nežberte ins Zentrum der Videoarbeit people would call you a faker and it hurt your feelings (2024). Der Titel spielt gewitzt auf Fragen nach Qualifikation und die Legitimität von Erfolg, Gaslighting, Anerkennung, Selbstzweifeln und Authentizität an. Während eine Stimme aus dem Off in einem poetischen Stream of Consciousness über künstlerisches Handeln und Identitätssuche sinniert, tauchen die Namen sämtlicher Involvierten und Impulsgeber*innen auf dem Bildschirm auf, darunter Kuratorin Astrid Peterle, genauso wie ChatGPT, die politische Philosophin Simone Weil oder der Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec. Die sonst häufig übersehenen Credits im Abspann eines Filmes werden zum Hauptaugenmerk und laufen in diesen Tagen auch in Leuchtschrift an der Fassade am Karlsplatz. Eine Arbeit, die in der Offenbarung des eigenen künstlerischen Kosmos intim ist und gleichzeitig die Fokussierung auf das Ich zugunsten der Sichtbarmachung allgemeiner struktureller Bedingungen kreativer Produktion öffnet.
Diese Kombination ist auch den Arbeiten von Željka Aleksić eigen, die „im Arbeiter*innenmilieu eines Nicht-EU-Landes“ (Zitat Ausstellungtext) aufgewachsen ist und in der Publikation Das Kapital (2023) ihren Arbeitsalltag neben dem Kunststudium – ob als Bäckerin oder Friseurin – dokumentiert. Malutensilien treffen auf Wischmopp und Bügeleisen. Dieses Selbstporträt ist geradlinig und in der faktischen Masse der schnappschussartigen Materialien eindringlich. Wie viel ist für ein Kunststudium zu leisten, was ist der Preis? Genau 54.312 EUR. Das neu entstandene Werk Numinous Toy (2024) ist ein in pompösen grünen Samt gekleidetes, lebensgroßes Fragment eines Badezimmers, dessen strahlend weiße Fließen mit Haarsträhnen bedeckt sind. Dabei handelt es sich um die Haare der Künstlerin, die durch den Stress mehrerer Nebenjobs – sie arbeitete unter anderem als Reinigungskraft in Hotels – ausgefallen sind. Die Arbeit, die mit Ekel und Vorstellungen von Sauberkeit und Weiblichkeit spielt, thematisiert die Verbindung von Luxus und Prekariat. Um die noble Erholung der einen zu gewährleisten, müssen die anderen unter unsicheren Bedingungen arbeiten. Passend dazu präsentiert die Künstlerin in einer Performance gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter orthopädische Übungen zur Linderung des Karpaltunnelsyndroms, eine über Generationen weitergegebene Erkrankung, die sich durch körperliche Arbeit verschlimmert. Die Werke von Aleksić sind von einer erstaunlichen Klarheit und konzeptuellen Stringenz, die ohne ästhetische Manierismen die eigene gesellschaftliche Situiertheit als Künstlerin zusammen mit Fragen nach Gesundheit und Klassismus im Kunstbetrieb zum Thema macht.
Auch Anne Schmidt geht für ihren Beitrag von der Selbsterfahrung aus und findet dabei eine künstlerische Sprache, die von dem humorvollen Überschreiten normativer (Geschmacks-)grenzen geprägt ist. Den autofiktive Roman Me after two anal orgasms hat die Künstlerin laut Klappentext während einer manischen Episode geschrieben. Er berichtet über den eskapistischen Strudel von Sex, Drogenkonsum, Freund*innenschaft und Liebe. Der soghafte Text ist im Zuge eines „Selbstversuches, keine Künstlerin mehr zu sein“[7] entstanden. Das lustvolle Über-die-Strenge-Schlagen bei gleichzeitigem „Faulsein“, das keine Scham, keine maßvoll artige Zurückhaltung oder ehrgeizige Umtriebigkeit kennt, wird ohne Pathologisierung oder Wertung erzählt. Die verwendete Sprache ist drastisch und zugleich beinahe kindlich unverstellt, man merkt ihr das Tempo und den hedonistischen Exhibitionismus der Manie an, was das Schreibprojekt besonders spannend macht. Das Museumsquartier als Kulturareal ist da jedenfalls nicht Schauplatz von ernsthaften Networkingkaffees und respektvollen Ausstellungsbesuchen, sondern von sexuellen Abenteuern:
„Als ich das letzte Mal im MQ war, am Mittwoch, da hatten wir Telefonsex. Auf den bescheuerten MQ-Bänken habe ich gelegen und er hat in meinem Handy geduscht und ich habe gestöhnt: „Bitte zeige mir deinen Schwanz, deine Schultern sind so sexy, bitte sei immer nackt in meinem Telefon und so nass.“ […] meine Muschi ist ganz feucht geworden. […] Ich habe mein T-Shirt hochgezogen und ihm im Halbdunkel meine frierenden Brüste gezeigt.“[8]
Leider nicht im prestigereichen Museumsquartier (wie bei der Preis-Ausgabe von 2022), sondern am kleineren Standort am Karlsplatz drängen sich nun die zehn Nominierten. Dabei können die Praktiken nicht in der Tiefe vorgestellt werden, meist ist es stattdessen ein einzelnes Werk, mit dem die Künstler*innen vertreten sind. Ursprünglich war der Preis als Duo-Show konzipiert, der das umfassende Highlighten einzelner Personen durch mehr Platz und Ressourcen pro Kopf automatisch besser gelingt. Dies zeigt sich natürlich auch an diesem Text, der, ob zeitlicher und monetärer Ressourcen, kein Urteil zu allen künstlerischen Arbeiten gibt, sondern nur die persönlichen „Lieblinge“ der Show hervorhebt. Schade ist, dass die Texte zu den jeweiligen Positionen in der später erscheinenden Begleitpublikation von den Künstler*innen selbst verfasst wurden, wäre das erstmalige Beleuchten und Einordnen der Praktiken durch die Kurator*innen oder externe Autor*innen doch wichtiger Teil einer profunden Förderung.[9]
Es ist übrigens Setzung und Spagat von WHW, zehn Positionen anstelle von nur zwei Hauptpreisträger*innen eine Plattform zu bieten. Das Gewinner*innenprinzip wird dabei zwar grundsätzlich aufrechterhalten – warum nicht auch das Preisgeld auf alle Künstler*innen aufgeteilt wird, bleibt unklar, – es wird aber zugunsten von Solidarität und Vielstimmigkeit geöffnet. Die Institution tritt als Verfechterin von Gemeinschaft und Kooperation statt von Konkurrenz auf – mit dem Ziel, möglichst vielen jungen Künstler*innen Zugang zu verschaffen und Möglichkeiten zu eröffnen. Man könnte sagen, mehr ist in diesem Fall tatsächlich mehr.
Die Infragestellung der Protegierung individueller „Stars“ durch Kunstpreise gelang besonders prominent 2019, als sich Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock, Oscar Murillo, and Tai Shani dazu entschlossen, Preisgeld und Ehrung des Turner Prizes als Zeichen des Zusammenhalts zu teilen. 2019 war auch das Jahr in dem WHW als erstes Kuratorinnenkollektiv zur künstlerischen Direktion eines derart etabliertes Ausstellungshaus wie der Kunsthalle Wien ernannt wurden. 2021 hat man für den Turner Prize ausschließlich Kollektive nominiert, danach ging es doch wieder „back to normal“. [10] Und auch in Wien hat sich die Hoffnung auf das Aufbrechen verkrusteter institutioneller Strukturen wieder verflüchtigt – der Vertrag von WHW wurde nach nur einer Amtsperiode nicht verlängert. Michelle Cotton wird als neue künstlerische Leitung der Kunsthalle Wien ab Juni 2024 mit der nächstjährigen Ausstellung wieder zum Modell einer Duo-Show zurückkehren. Die Institution ist und bleibt eben friend und old enemy zugleich.
Come As You Are. Preis der Kunsthalle Wien 2023
Kunsthalle Wien Karlsplatz, Wien
15. April – 1. September 2024
[1] Die jeweiligen Professor*innen und Studienfächer der Künstler*innen werden im Ausstellungstext nicht oder nur sehr punktuell genannt.
[2] Kerstin Stakemeier, „Kritik, genauer Kunstkritik“, in: Ilka Becker/Marcel Hiller/Kathrin Mayer/Markus Saile (Hg.), Fields of Codes, Köln 2018, S. 24−35, hier: S. 31.
[3] Während die Kuratorin der Ausstellung, Astrid Peterle, letztes Jahr nicht Teil des Auswahlprozesses war, und den Arbeiten (gemeinsam mit der externen Kuratorin Pieternel Vermoortel) im Kurationsprozess gewissermaßen neu zu begegnen hatte, war sie dieses Jahr Mitglied der Jury, der außerdem WHW und Nicole Suzuki (für die Kunsthalle), Veronika Dirnhofer, Johan F. Hartle und Iman Issa (für die Akademie), Robert Müller, Vika Prokopaviciute und Eva Maria Stadler (für die Angewandte) sowie externer Juror Vít Havránek (Kurator und Vizerektor der Akademie der bildenden Künste Prag) angehörten.
[4] Nach einem pandemiebedingten Dämpfer hat die Anzahl der Studienabschlüsse im Bereich der Bildenden Künste an den Aufwärtstrend der vorherigen Jahre angeknüpft: An der Angewandten machten 170 Personen Abschluss, an der Akademie 99.
[5] Zum ersten Mal sind Absolvent*innen der Fachbereiche Kunst und Bild | Grafik, Bühnengestaltung sowie des interdisziplinären Programms Art & Science unter den Nominierten.
[6] 2023 gab es bei der Preis-Ausstellung Freezing the Scene ein Ausstellungsdisplay, das die Arbeiten stärker miteinander verschränkte und Beziehungen zwischen den Praktiken hervorhob.
[7] Klappentext Anne Schmidt, Me After two anal orgasms, Berlin 2024
[8] Anne Schmidt, Me After two anal orgasms, Berlin 2024, S. 14.
[9] In der letzten Ausgabe gab es zu jeder Künstler*in einen eigens verfassten Text einer externen Autor*in.
[10] Es gibt natürlich auch aktuelle Gegenbeispiele: Der Preis der Nationalgalerie ging beispielsweise dieses Jahr zugunsten kollektiven Austauschs zum ersten Mal an vier Künstler*innen.