Archiv: Die weiße Blatt
von Leonie Huber
in Kooperation mit basis wien – Archiv und Dokumentationszentrum, Kristina Haider und Nora Hermann

Fünf Nummern der Zeitschrift Die weiße Blatt erschienen von 2001 bis 2007 in Wien. Die Herausgeberinnen Linda Bilda, Kristina Haider, Nora Hermann und Ulrike Müller verzichteten auf individuelle Autor:innenschaft und analysieren in ihren Texten Machtstrukturen und Marktmechanismen im Kunstsektor, um kritisch in diese zu intervenieren. Zum Thema ‚outside’ wird die erste Ausgabe von Die weiße Blatt in Kooperation mit der basis wien – Archiv und Dokumentationszentrum exemplarisch vorgestellt.



        
       Die erste Ausgabe von Die weiße Blatt ist violett auf weiß gedruckt. Die etwa zehnseitige Broschüre konnte zum Preis von 25,- österreichischen Schilling in ausgewählten Buchhandlungen, wie zum Beispiel in der Kunstbuchhandlung von Judith Ortner, Sonnenfelsgasse 8, oder im Antiquariat Georg Fritsch, Schönlaterngasse 7, in Galerien und im Salzburger Kunstverein erworben werden. Direkt unter dem Titel beginnt eine Rezension[1] von Antonio Negris Buch „Ready-Mix: Vom richtigen Gebrauch der Erinnerung und des Vergessens“, die auf der zweiten Seite zwischen dem Bericht[2] über eine Lesung der Künstlerin Lydia Lunch und einer Ausstellungskritik[3] über Jutta Koether fortgesetzt wird. Ein Artikel über das erste, die von Okwui Enwezor kuratierte documenta 11 einleitende, Panel zu „Demokratie als unvollendeter Prozess“ in der Akademie der bildenden Künste Wien schließt wiederum auf Seite 11 mit der „Conclusio: Die Veranstaltung scheint durch ihre Form zu ihren Inhalten im Widerspruch zu stehen und lässt sich aus unserer Sicht bisher als der Versuch eines Paradigmenwechsels vom postmodernen Strukturalismus zur postkolonialen marxistischen Theorie lesen.“

       Im Editorial – weiß auf violett – beschreiben die Herausgeberinnen Linda Bilda, Kristina Haider, Nora Hermann und Ulrike Müller ihren Arbeitsprozess: „Fast ein Jahr lang hat sich die neu gebildete Redaktionsgruppe regelmäßig getroffen. Zunächst ging es um sehr grundsätzliche Fragen zur gemeinsamen Text-, Bild- und Zeitschriftenproduktion. Die Diskussionen und umherschweifenden Gespräche haben uns allen etwas/sehr/viel Spaß und Erkenntnisgewinn gebracht. […] Beim Schreiben glauben wir nicht objektiv zu sein, wir sind keine Reporterinnen und haben nichts zu berichten.“ Die sich schon abzeichnende Regierungsbeteiligung der FPÖ, die nach der österreichischen Nationalratswahl 1999 in der ersten schwarz-blauen Koalition mündete, war Anlass der Gründung von Die weiße Blatt und Faschismus, Demokratie und Widerstreben zentrale Themen der ersten Ausgabe. „Die erste schwarz-blaue Regierung der ÖVP mit der FPÖ ist uns sozusagen in die Redaktionssitzungen gefallen. Es war die sich stark im Alltag abzeichnende reaktionäre, rückschrittliche und fremdenfeindliche Stimmung – einerseits immer wieder angeheizt durch die Haider-FPÖ und andererseits bedingt durch eine zunehmend offensichtlich rückgratlose ÖVP unter Wolfgang Schüssel, die zu allem bereit war – der wir mit der Gründung der Redaktion in Voraussicht etwas entgegensetzen wollten. Das war ausschlaggebend für die Die weiße Blatt. Das Bedürfnis sich zu äußern war Ende der Neunziger und im Jahr 2000 unter Künstler:innen aller Bereiche sehr, sehr stark.“, erzählt mir die Künstlerin und Mitherausgeberin Kristina Haider. „Wir trafen uns in der selbstverwalteten Bibliothek von unten[4] oder im Café Weidinger am Gürtel. Ein Thema wurde in den Raum gestellt und wir diskutierten gemeinsam, wie man dieses rüberbringen kann. Die Texte entstanden im Gespräch.“ Dass Die weiße Blatt auf individuelle Autor:innenschaft verzichtet, ist im Impressum kurz begründet: „Die veröffentlichten Text stimmen vollkommen mit der Meinung der Redaktion überein und sind deshalb nicht namentlich gekennzeichnet.“


       Die Redaktion und die Mitwirkenden bleiben nicht anonym, sondern positionieren sich durch die fehlende namentliche Kennzeichnung als ein geschlossenes Innen gegenüber einem Außen, das konkret als die faschistoide österreichische Regierung und der von einem kapitalistischen Wirtschaftssystem gelenkte Kunstsektor benannt wird. Formal durchkreuzt die Zeitschrift eine Logik von Innen und Außen: Der Inhalt erstreckt sich auf das Cover, das anstelle eines einfachen Widererkennungseffekts auf die Lektüre der Texte setzt; die Artikel und ergänzende Zitate überschneiden und vermischen sich; experimentelle Textformen – wie beispielsweise eine Ausstellungskritik über Josephine Pryde in der Galerie Gabriele Senn, bei der die Leser:in aufgelistete Adjektive selbst in die entsprechenden Leerstellen eintragen kann – und politische Kampagnen und Reportagen stehen nebeneinander.


       Im Kern der ersten Ausgabe von Die weiße Blatt wird in einem Artikel zu dem Projekt „artwaresmart“ die Pressemitteilung des Projektes, bei dem zehn Künstler:innen eine limitierte Edition von Smart-Autos gestalteten,[5] mit einem Bericht über die Produktionsprozesse und Arbeitsbedingungen am Fabrikstandort Hambach in der Mosel gegenübergestellt. Auf Seite 6 & 7 sind ein Reisebericht zum Kongreß Polskiej Kultury in Warschau mit Fokus auf ein Dokumentarfilmfestival und ein Auszug aus einem Flugblatt zu finden, das anlässlich der Ausstellung „700 Jahre Persien“ im Kunsthistorischen Museum Wien die politische Situation im Iran sowie dessen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Österreich kritisch diskutiert. Diese und weitere Texte sind äußerst informativ und verdeutlichen den politischen Anspruch von Die weiße Blatt. Im Online-Archiv der Zeitschrift wird die Blattlinie beschrieben: „Eine Meinung zu haben deutet auch sie zu sagen – Informationen zu bekommen bedeutet auch sie weiterzugeben – was ist Die weiße Blatt? Der Kunstsektor ist aufgeladen mit Bedeutungen wie geistige Avantgarde, Autonomie der KünstlerInnen und anderen Begriffen, die den Zusammenhang von Kunst mit der Banalität von Geld und Macht unsichtbar machen. Wir denken, dass die Kunst – wie jeder andere Teil der Gesellschaft – ein Raum ist, in dem Marktmechanismen, Erzeugung von Autorität und Hierarchie – also ähnliche Vorgänge wie in allen gesellschaftlichen Sektoren, stattfinden. Wir als Redaktion versuchen Informationen anzubieten, die die Wirklichkeit in diesem Bereich beschreiben und damit kritische Interventionen erlauben.“[6]


       Das Projekt Die weiße Blatt wurde von der Wiener Künstlerin Linda Bilda (1963-2019) initiiert, die zuvor gemeinsam mit Ariane Müller das Fanzine Artfan herausgab. Die Gründung von Artfan 1991 war von der Kölner Szene der späten Achtziger und der Erkenntnis inspiriert, „dass die Diskussion der institutionellen, politischen und persönlichen Grundlagen der Produktion der Menschen, die Kunst machen, diesem Feld durchaus zuzumuten ist.“[7] 1994 wird Artfan in einer soziologischen Studie mit dem Titel Studie Zeitgenössische Kunstrezeption und Probleme des Kunstmarktes in Österreich[8], neben Kunstforum, ART und Artforum als eine von ca. acht Kunstzeitschriften genannt, die von einem lokalen Kunstpublikum konsumiert wird. „Es war auch die einzige vorgeschlagene Wiener Kunstzeitschrift, was nicht verwunderlich ist, denn es gab damals keine andere.“[9], resümiert Müller in einem Katalogbeitrag über die Zeit. Obwohl die Zeitschrift ab der zweiten Ausgabe auf dem deutschen Markt von der Buchhandlung Walther König vertrieben wurde, „beharrte die Wiener Rezeption darauf, dass es sich bei Artfan um eine sub-kulturelle Zeitschrift handelte, was Linda Bilda und mich [Ariane Müller] insofern erheiterte, als dieser unbedingte Unterschichtungswunsch ja über viele Jahre nicht dazu führte, eine dann ebene kulturelle Zeitschrift zu produzieren, um damit den unterschrittenen Standard zu markieren. So blieb Wien eine Stadt, die ihre Subkultur zwar benennen konnte, ihre davon abzugrenzenden kulturellen Werte aber nicht in einem Medium diskutierte.“[10] Die einzelnen Ausgaben von Artfan wurden von einer Person aus dem erweiterten Kunstbetrieb finanziert, um von staatlicher Förderung unabhängig zu sein. Auch hier orientierte man sich an einer Kölner Argumentationslinie, die behauptete, „Kultur in Wien sei grundsätzlich von Förderstrukturen abhängig und deshalb immer in ihrer Kritikfähigkeit zu Konsens oder aber dissidentenhafter Verschleierung gezwungen, jedoch nie in experimenteller Form frei.“[11] Die Zeitschrift Die weiße Blatt ist nicht nur eine wertvolle Quelle, die Einblick in den künstlerischen und aktivistischen Diskurs in Wien in den Nullerjahren ermöglicht, sondern auch in ihrer Analyse und Kritik der inneren Widersprüche des Kunstsektors und der Schwierigkeiten über diese zu berichten, eine Inspiration für Projekte wie dis/claim.


[1] „Nachdem ich aufhörte mir Notizen zu machen, konnte ich den Text auch besser aus seinen poetisch-sprachlichen Gehalt hin lesen, der das Verstehen auch auf eine andere Art als die der logisch-begrifflichen stellt.“, vgl. Die weiße Blatt, 01, 2001, https://web.archive.org/web/20050404190631/http://www.dieweisseblatt.tk/ [zuletzt: 17.11.23]
[2] „Sogar als sie [Lydia Lunch] in einer Lesepause zum Wasserglas greift, seufzt sie den Namen des sie ständig verletzenden Liebhabers: ‚Oh Johnny, …’. Zu Ende des Stücks fällt sie abrupt aus der Rolle, und auch das Publikum findet wieder zu sich. ‚Thank you Vienna, and good luck with your lives.’“, vgl. Die weiße Blatt, 01, 2001, https://web.archive.org/web/20050404190631/http://www.dieweisseblatt.tk/ [zuletzt: 17.11.23]
[3] „den schmerz, die auseinandersetzung mit ihm kann ich nicht finden… ratlosigkeit. Das halluzinierte ‚ich’ löst sich auf in masken und metaphern, wäre das dann: der schmerz? […] hätte man mir erzählt, die bilder handelten vom moment unmittelbar vor der erleuchtung, oder von einen picknick im central park an einem späten aprilsonntag – ich hätte das wohl auch geglaubt. und vielleicht wäre es auch war gewesen…“, vgl. Die weiße Blatt, 01, 2001, https://web.archive.org/web/20050404190631/http://www.dieweisseblatt.tk/ [zuletzt: 17.11.23
[4] Die Bibliothek von unten wurde unter dem Namen Volxbibliothek im Januar 2000 in Wien gegründet und ist die größte selbstverwaltete und nichtinstitutionelle Bibliothek in Österreich. Über 5000 Bücher und 140 Meter Zeitschriften zu linker und linksradikaler Gesellschaftskritik, Politik und alternativer Lebensbereiche werden dort einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Seit 2006 ist sie in der Wipplingerstraße 23 zu finden, seit 2021 von einem neuen Team organisiert. Siehe: https://website-refresh.bibliothek-vonunten.org/ [zuletzt: 17.11.23]
[5] Kuratiert von Edelbert Köb, damaliger Direktor des Kunsthaus Bregenz und Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien, später Direktor des mumok, im Auftrag der Portfolio Kunst AG, ein auf Handel und Vermietung von Bildern, Grafiken und Design-Produkten spezialisiertes Unternehmen, das 2001 zahlungsunfähig wurde. vgl. Die weiße Blatt, 01, 2001, https://web.archive.org/web/20050404190631/http://www.dieweisseblatt.tk/ [zuletzt: 17.11.23],
sowie OTS „Rollende Kunst: artwaresmarts + Online-Spiel/ Internationale Kuenstler Designen Smart-Cars“, 07.08.2000, https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20000807_OTS0049/rollende-kunst-artwaresmarts-online-spiel-internationale-kuenstler-designen-smart-cars [zuletzt: 17.11.23]
[6] Vgl. https://web.archive.org/web/20050404190631/http://www.dieweisseblatt.tk/ [zuletzt: 17.11.23]
[7] Ariane Müller: Linda Bilda als junge Maleriin 1985-95. In: Linda Bilda. Amor vicit omina, hg. von ARTCLUB WIEN, Ausst.-Kat., Lentos Museum Linz, 11.11.20-07.02.21, S. 20-41, hier: S. 29.
[8] Die Studie wurde von der Bundeskuratorin Cathrin Pichler beauftragt und 1994 unter anderem von Lioba Reddeker durchgeführt, die ihr 1997 in dieser Position nachfolgen sollte, aus dem in dieser Funktion entstandenen Archiv ist die basis wien – Archiv und Dokumentationszentrum hervorgegangen, vgl. Müller 2020, S. 30.
[9] Müller 2020, S. 30.
[10] Ebd., S. 20.
[11] Ebd.