Textnischen und Gruppenränder
von Sophia Roxane Rohwetter
Ich dachte, ich würde etwas über niche fame in der Kunstkritik (Dean Kissick, Manhattan Art Review, Donnerstag) mit Fokus auf Autorschaft und Anonymität schreiben, aber dann dachte ich, dass die Frage der Autorschaft bereits geklärt sei, d.h. Anonymität zugunsten eindeutiger Autorschaft aufgegeben wurde, d.h. Autofiktion statt Autorfiktion. Also Thema verworfen und das Schreiben steckte fest, in den äußeren Rändern, den Textnischen, also in den Fußnoten, in denen die Frage der Autorschaft mit dem Problem des Nichtschreibenkönnens, mit der Krise der Kritik und nervigen Gruppendynamiken zusammenläuft. Ein zweigleisiger Text, der sich in den Marginalien versteckt, Selbstreflexion performt, seine Gruppenzugehörigkeit negiert, sich in den eigenen Widersprüchen einnistet.
der text steckt in den nischen fest hab’s nicht geschafft ihn rauszuholen[1] wollte nachts schreiben[2] und um fünf Uhr morgens schreiben[3] an den tagesrändern zwischen lohnarbeit und prokrastination[4] aber schlief dann steckte fest in bettritzen in denen sich brotkrümel und tagesreste nicht zu traum oder textgebilde einem hübschen worthäuschen sondern grauen staubhäufchen verklebten das ich gestern wieder nicht wegsaugte als vergewisserung dass da etwas liegt und lebt wenn nicht text in der schublade dann wenigstens dreck unterm bett also wegen der erschöpfung schöpft sich die sprache nicht steckt fest am topfgrund dann schon wieder mit der gabel rumgekratzt was steckt da unten auch keine guten wörter oh bin reingefallen oh ein nest[5] aus sprachresten aus nischen in denen ich saß in denen ich nie war[6] spalten in die ich hinein fiel abgründe[7] in die man mich schubste ränder in die ich mich eingenistet glaubte um dann einsehen zu müssen dass ich weder nerd noch nischengängerin bin und dass wenn ich eine nische fand sie schon längst besetzt war von einer mehrheit gar und die nische nun nicht mehr nischig war sondern bewohnt von einer gruppe[8] mit peinlichen performanzen mit erkennungszeichen codes und insidern[9] sprechregeln selbstreflexionsübungen[10] mit narzissmusproblem[11] mit in farbe ausgedrucktem selbstverständnis an der tür sichtbar für alle die kommen und wenn sie gehen müssen sie sich schämen für ihre fehlende oder falsche zugehörigkeit und so ich bin dann meistens gegangen ohne mich nochmal umzudrehen zurückgekrochen in meine gruppenlose nische und als ich mich gerade einnistete in meiner einsamkeit fand ich mich among others die genau so waren wie ich und einer hielt ein buch in der hand darauf stand: leave society und wir gingen zusammen[12]
[1] „Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen“, schreibt Ilse Aichinger. Und so erging es auch uns, wir lagen so da in der sprachlosen Nische, Sprache und ich, schwiegen. Sie schaute mich an und wir kamen uns fremd vor, also „…ich war in einer anderen Welt nämlich ich bin an einem Tag anders als am vorhergehenden Tag, d.h. wenn ich am Dienstag schreiben konnte, kann ich am Mittwoch nicht schreiben und nicht verstehen, wie ich am Vortag hatte schreiben können etc., ich war am Mittwoch zB noch nie so weit davon entfernt, dasz es mir vorkam, ich hätte noch nie etwas geschrieben, nicht wahr, und ich staunte, dasz ich imstande gewesen war, etwas zu schreiben, weil am Mittwoch der Gedanke, jemals etwas geschrieben zu haben, vollkommen weg war, und ganz unvorstellbar, wie wenn jemand, der nie geschrieben hatte, etwas über das Schreibenkönnen hört – also es war ganz UNWIRKLICH / UNIRDISCH” (Friedricke Mayröcker). Bei mir ist jetzt immer Mittwoch und Mittwoche sind lang und an Mittwochen weiß ich den Stift nicht zu spitzen, kritzle nur stumpf vor mich hin. Am Donnerstag lese ich dann im Kritic’s Korner auf Manhattan Art Review über eine Ausstellung von SoiL Thornton bei Essex Street, als Vorwurf formuliert: „Call me old-fashioned but I think artists should struggle with their work, not being disappointed by what you make is a creative death knell”, und halte die Enttäuschung über mein Nichtschreibenkönnen fälschlicherweise für den Beweis meiner Kreativität anstatt meines Todestriebs. Lese dann am Freitag bei Ilse Aichinger: „Schreiben ist sterben lernen“, und lösche den Inhalt des Worddokuments, öffne das Fenster. „Jump! You Fuckers! Kunstkritik als aktive Sterbehilfe“ (Annika Bender). [2] Nachts wollte ich über niche fame in Bezug auf Autorschaft und Anonymität schreiben. Am 23.12.22 um 23:26 Uhr schrieb ich an Leonie: „Ich denke, ich schreibe etwas über niche fame in der Kunstkritik (Dean Kissick, Manhattan Art Review, Donnerstag) mit Fokus auf Autorschaft und Anonymität, eher bis Ende Januar.” Dann nachts, Ende Januar, noch immer ein leeres Worddokument, kein Interesse an der Autorfrage, zumal es mir schien, dass die Frage der Autorschaft in der nischigen Kunstkritik, über die ich schreiben wollte, spätestens seit der Enttarnung von Annika Bender – eines der Pseudonyme der Künstler Dominic Osterried und Steffen Zillig, die von 2010 bis 2014 den Blog Donnerstag betrieben – geklärt sei, d.h. Anonymität zugunsten eindeutiger Autorschaft aufgegeben wurde, und auch bei jenen zeitgenössischen New-York based Online-Phänomenen wie Manhattan Art Review, Dean Kissicks kürzlich eingestellter SPIKE-Kolumne Downward Spiral und der neuen Plattform Downtown Critic scheint es wohl mehr um Autofiktion als Autorfiktion zu gehen. Also Autorfrage verworfen, was hätte da auch schon gesagt werden können? Vielleicht, dass ein shift stattgefunden hat, von der Notwendigkeit maskierter Kritik, die Donnerstags anonymer Autorschaft zugrunde lag, hin zu einer demaskierten, sich vollständig entblößenden Kritik – wegen des Zwangs zur accountability und der Hoffnung auf 15 Minuten niche fame? Während für Donnerstag die Demaskierung der Autor:innen notwendigerweise das Ende des Projektes bedeuten musste, leben die Reviews und Kolumnen von Kissick & Co von ihren namhaften Autor:innen, die als öffentliche Personen auftreten und wohl das fleischgewordene, wenn auch immateriell durchs Internet floatende, Epitom des niche fame darstellen. Donnerstag hingegen hielt angesichts der starken sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse, die den Kunstbetrieb zusammenhalten, eine Kunstkritik, die Unterscheidungen von guter und schlechter Kunst trifft – und das war Auftrag und Anliegen des Blogs – unter Klarnamen und Gesicht für unmöglich. Wer aufbegehrt und kritisiert, der verliere am Ende nicht nur Aufträge, sondern auch Freund:innen. „Sucht euch ein Leben außerhalb der Kunst und immunisiert euch gegen das soziale Geflecht”, schrieb Annika Bender am Ende ihres öffentlichen Statements, das den Donnerstag-Blog beenden sollte. Sean Tatol, der die Website Manhattan Art Review betreibt, sieht sich einige Jahre später noch mit denselben Problemen konfrontiert, stellt sich ihnen aber unter Klarnamen und mit miesen Selfies. Ähnlich wie Osterried und Zillig beharrt auch Tatol auf einer Unterscheidung von guter und schlechter Kunst und definiert diese auf einer Sternchenskala von 1-5 (*****Great ****Good ***Okay **Bad *Awful). Wie Donnerstag geht es Tatol bei dieser Unterscheidung nicht darum, das anachronistische Bild eines „alten Pontifex-Kritikers“ (Annika Bender) zu reproduzieren, der mit dem autoritären Zeigefinger wedelt und rechtskräftige, scheinbar objektive Werturteile fällt. Vielmehr handelt es sich um ein demokratisches Projekt, das einer öffentlichen Stimme den Akt des Urteilens gewährt und damit die Autorität des „postheroically styled art writer“ (Annika Bender) zu untergraben versucht. Tatol unterzieht in seiner Unterscheidung zwischen guter und schlechter Kunst auch kanonisierte Positionen einer kritischen Neubewertung: „Once an artist is canonized their profundity is not guaranteed for all time, and as a critic it's my job to subjectively evaluate how meaningful artists are to the present moment.“ So verlieh er einer Cindy Sherman Ausstellung bei Hauser und Wirth nur mickrige 2,5 Sterne und schrieb: „A woman dressing up, sitting, standing, etc. The small black and white photos on the top floor have a cinematic and compositional sense that makes them work for me as snapshots from an idealized Antonioni movie, but everything else on the other two and a half floors just feels claustrophobic and unimaginative. To the extent that the work is about assumed personas they're mostly pretty oblique, the variations are too minute and I don't find them suggestive of an implied idea which makes them feel narcissistic. Or maybe I don't like them because she kind of looks like someone I dated briefly in college.” Daraufhin wurde Tatol von der Künstlerin, Autorin und Kuratorin Jordan Barse Misogynie und Uninformiertheit vorgeworfen. Tatol antwortete auf Manhattan Art Review wiederum mit einer Art Verteidigungsschrift mit dem Titel Art & Money, die zugleich eine Anklage der moralischen Selbstüberhöhung identitätspolitischer Kunst ist, die, so Tatol, meist einer ökonomischen Logik folge: „[…] I’m not interested in a reactionary takedown on identity politics in itself but rather in the way it is utilized as an empty moral palliative for the wealthy and an amoral justification for easy sales, or, in other words, a tool for the further streamlining of the art market. Reducing art to an identity-based moralism is an effective means for counteracting an aesthetic critique: it's apparently within the bounds of respectability to call my writing misogynist for writing a dismissive review of a blue chip female artist's work because ‘I didn't take the time to understand it,’ without elaborating on what I didn't understand, as if it's impossible that I could be both not sexist and not particularly appreciative of a female artist's work at the same time. Of course I understand that Sherman’s work is about the feminine construction of identity, I’m not stupid. Everyone knows that, so I didn't see the point in saying it to prove I understand it. But just as you can lead a horse to water, no one is under a moral imperative to like an artwork when it's been explained to you, although much of the art world seems to think otherwise […] the entire art world is built against the existence of honest critics, even on a petty personal scale, let alone when the real moneyed interests in art get involved. It's in the interest of galleries and institutions to act as though the canon is sacrosanct, and if that untouchable space can be expanded to any identity-related art, so much the better.” Erschöpft, mit einem angenehmen Gefühl zwischen Selbstgerechtigkeit und Zuversicht schlief ich ein. [3] Am nächsten Morgen, fünf Uhr, wachte ich auf. Erinnerung an einen Traum: Ich lande am Walter-Benjamin-Flughafen und fahre mit dem Taxi zu einer Konferenz (Thema unklar). Ich sitze in der ersten Reihe des stickigen Seminarraums und versuche mich zu konzentrieren, als ich spüre, wie sich auf meiner Stirn ein Loch auftut, aus dem meine flüssige Gehirnmasse herausläuft. Der Rest des Traumes handelt davon, wie ich mich darauf konzentriere, das Loch in meinem Kopf mit der Hand so zuzuhalten, dass keiner der anderen Konferenzgäste bemerkt, dass ich im Begriff bin mein Gehirn zu verlieren. Mein Blick fiel auf Benjamins Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, das auf meinem Nachttisch lag. Nachdem ich in der Nacht also die Autorfrage verworfen hatte, nun eine neue Idee: den Zusammenhang von Formen der Ironie in der zeitgenössischen Kunstkritik und Walter Benjamins Überlegungen zur formalen Ironie in der romantischen Kunstkritik zu untersuchen. Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik untersucht die Bedeutung der Begriffe ‚Reflexion’ und ‚Kunstkritik’ von der frühromantischen Kunsttheorie bis zum Idealismus. Benjamin arbeitet dabei ein Verhältnis zwischen Ironie und Kritik heraus – „Wie verhält sich die Zerstörung der Illusion in der Kunstform durch die Ironie zur Zerstörung des Werkes durch die Kritik? Die Kritik opfert um des einen Zusammenhanges willen das Werk gänzlich. Dasjenige Verfahren, dagegen, welches unter Erfahrung des Werkes selbst dennoch seine völlige Bezogenheit auf die Idee der Kunst zu veranschaulichen vermag, ist die (formale) Ironie” –, vermittelt durch den Begriff der Reflexion, der es ihm ermöglicht Kunstkritik (wobei Kunst hier vor allem Dichtung meint) und Ironie sowohl ins Verhältnis zu setzen als auch gegensätzlich zu charakterisieren. Für Schlegel, so Benjamin, ist die Mittelbarkeit der Ironie „der einzige Modus, unter dem Kritik dem Nichtigen entgegenzutreten vermag“. Aber was, wenn das Nichtige die Kritik selbst ist? – dachte ich um 5:30 Uhr. „Die romantische Kunstkritik blieb auch nach Benjamins frühem Tod über das ganze 20. Jahrhundert relevant, etwa in der postmodernen Kunstkritik (Krauss, Rosenblum, Owens), einer politisch motivierten Rezeption der Warburg-Schule (Agamben, Didi-Huberman, Ginzburg) und nicht zuletzt in der Dekonstruktion (Derrida, Lacoue-Labarthe, Nancy)“, las ich um 5:45 Uhr, jetzt am Handy. Eine sinnlose Idee, dachte ich um 6 Uhr – warum, woher der Romantikbezug? Wohl aus einem missverstandenen Romantikverständnis, vielleicht weil da eine Sehnsucht ist? Nach was? Dem Profanen-Digitalen einen Sinn zu geben, einen Hype zu verstehen, damit er mehr als nur downward spiralling doomscrolling sein kann? Um 7 Uhr ergab nichts mehr einen Sinn, ich legte Benjamin beiseite, stand auf und machte mich auf zur Lohnarbeit (Home-Office). [4] Eine beliebte Prokrastinationsaktivität, wenn das Schreiben scheitert: alte Texte lesen, um sich zu vergewissern, dass man mal schreiben (oder wenigstens denken) konnte, und es deshalb noch immer können müsste, oder um Sprachschnipsel bereits verrichteter Arbeit wiederzuverwerten (Arbeitssparmaßnahme, schafft Zeit für mehr Prokrastination und Nichtschreibenkönnen). Kurz vor, also eigentlich schon nach der Deadline, zu tief im Januar, im Halbschlaf, fiel mir dann ein, dass ich 2016 – als ich noch Studentin der Medien- und Affekttheorie war und Seminare mit Titeln wie Computing Love besuchte – ein Essay mit dem Titel FAME. Affective Bodies in the Attention Economy geschrieben hatte. In der Einleitung dieses Essays lese ich: „Drawing on contemporary affect theory, I want to argue that fame is not pre-given to bodies but rather an affect that is attributed and performed. The aim of this paper is not to capture the alleged essence of the affect fame, but rather to comprehend the specific affiliations that are inseparably linked to technological questions, digital new media, politics, power relations, neoliberal capitalism, and sexuality. After examining the bodies that bear the markings of the affect fame, I will develop the idea of a fame network that operates by a „market-driven circulation of affect and attention“ (Clough 2007: 19). Ich springe zu Kapitel 3 (The Fame Network within the Attention Economy), in der Annahme, dass sich dort ein Zusammenhang zu niche fame auftut, denn eine Nische ist ja nicht viel mehr oder weniger als ein Netzwerk, das sich über Internet- und Identitätsverbindungen, über Aufmerksamkeits- und Affektströme generiert und reproduziert. „In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes“ – Andy Warhol’s prognosis from 1968, inspired from media theorist Marshall Mcluhan, has become reality. In the era of micro-celebrities, fame operates as an „open system concept, letting all in who wish to participate“ (Jagodzinski 2010: 27). Accordingly, the psychobiological idea that fame is genetically determined, no longer holds (Giles 2010: 471 f.). Instead, a fame network arises, that „encompass[es] and interconnect[s] the technological and the social“ (Chun 2016: 26). The 21st century operates to a certain degree through networks, online and offline. Therefore, different scientific disciplines construct networks to „trace unvisualizable interactions as spatial flows […] by offering a resolution that pierces through the ‚mass‘ or community to capture individual and preindividual relations“ (Chun 2016: 3). A fame network can be understood as a network of affective production that consists of different nodes driven by the efficiency of transfer. The celebrities’ job is to be „open to a free play of affective flow and to allow the capture of that flow as affect“ (Wissinger 2007: 247). That way, celebrities operate as nodes in the network (ibid.).” Tagträumend stellte ich mir vor, wie Dean Kissick, Sean Tatol, Annika Bender (in meiner Vorstellung hat sie aschblondes Haar und einen großen Mund) als Netzwerkknoten durchs Internet beamen, unter ihnen die Affekte und Fantasien einer kleinen ornamentalen Masse, die ihnen mit tobendem Applaus und Buhrufen entgegen streamt. [5] Das Wort ‚Nische’ leitet sich vom altfranzösischen Begriff ‚nichier’ ab: „sich ein Nest bauen“. Die Nische ist ein Nest, ein geschützter Ort unter Gleichgesinnten. So bezeichnet eine ökologische Nische die Gesamtheit der biotischen und abiotischen Umweltfaktoren, innerhalb derer eine Art selbst ökologische Funktionen ausüben und überleben kann, also eine Umwelt für eine kleine Gruppe derselben Art. Aber eine Nische kann auch eine Vertiefung in einer Wand sein, zum Beispiel eine, in die ein Kunstobjekt, etwa eine Statue, gestellt wird, um sie besser sehen zu können und sie als Kunst zu markieren. Die Nische ist Homologie, Zufluchtsort, Bubble und Display zugleich, ein Präsentationsmodus, ein Ort der Selbstdarstellung, der Kollektiv- und Cliquenbildung. Nische, Netzwerk, Nestwirtschaft. Wie die Kunstkritik, der alte friendship service. Eine Nische, in der jeder über jeden und jeder mit jedem nestelt, d.h. fickt. Ein Nest, in dem Distanz nicht mehr vorausgesetzt, sondern Nähe eingefordert wird. Die zwiespältige Rolle der zeitgenössischen Kunstkritik: Freundschaftsdienst oder distanzierte Außenperspektive, Werbung oder Verriss, Kritik als eigenständige Kunstform oder Kritik im Dienste der Errettung der Kunst? Angesichts einem der Logik von Spektakel und Spekulation unterworfenen Kunstmarkts erscheint der:die der Kunstkritiker:in heute eher als „Staatsbürgerin einer vollends finanzialisierten Gegenwart“ (Stakemeier) oder als „unpaid publicity agent“ (Jill Johnston). Jill Johnston, Kulturkritikerin und lesbische Ikone, distanzierte sich schon 1969 von kunstkritischen Formen des Schreibens, die der Vermarktung und dem Verkauf von Kunst dienten und forderte Poesie statt Kritik, Fiktion statt Rezension. In der Pressemitteilung zur Podiumsdiskussion The Disintegration of A Critic: An Analysis of Jill Johnston, die 1969 in New York stattfand, schrieb Johnston: „My purpose in arranging this my third and last panel was to offer my name as a sort of sacrifice if you like for the idea of a disintegration of criticism, which I view as an outmoded form of communication. Reportage may be necessary and interesting. I like it myself. Poetry and all forms of fiction, history, autobiog., etc., I accept as forms of speech and writing not coercive as to the salesmanship of immediate artistic events, i.e., reviews in the newspapers and the magazines.” Aber vielleicht ist heute, über ein halbes Jahrhundert später, nicht die Dichtung und alle Formen der Fiktion, sondern die Werbung das geeignetere Kritikmedium. Denn während die sell-out Kunstkritik mit einem unlösbaren Dilemma konfrontiert ist – „dass sie einerseits notwendig auf der Fiktion einer anderen Welt und Wertigkeit insistiert und doch andererseits eingelassen bleibt in kapitalistische Verhältnisse“, wie Isabelle Graw und Sabeth Buchmann in dem in der Texte zur Kunst erschienenen Aufsatz Kritik der Kunstkritik schreiben –, kann die Werbung die mühsam bis langweilige Frage der Komplizenschaft leicht umgehen, da ihre ökonomische Einbettung und der Zwang zum Verkauf ihre eigentliche Existenzbedingung ist. [6] Es erweist es sich als geradezu unmöglich, über Nischen zu schreiben, zu denen man nicht gehört. Noch schwieriger aber gestaltet sich das Schreiben über Nischen, zu denen man nicht gehört, aber gehören will, zum Beispiel zu diesen New York guys. Dann, kurz vor Weihnachten, quasi als Geschenk, lese ich auf Manhattan Art Review über eine Ausstellung von Freundinnen in New York, für die ich den Pressetext geschrieben hatte (again, the nest is getting small, eng even): „A rare compliment from me: the press release is a fun piece of writing, even if it is overbearingly European.“ Ich freue mich, ich gehöre dazu, aber nicht ganz, zu europäisch. Ein Insider mit Outsider-Qualitäten, nice, very niche. „I find it a bit vacant and pretentious, but Europeans might consider vagueness more profound than I do?” Verkrieche mich wieder in meiner Vaguenessnische, einem geschützen Nest, irgendwo in Europa. [7] Z.B. einmal in eine sadistische Hölle. Ana Teixeira Pintos und Kerstin Stakemeiers kontroverses „kurzes Glossar zum sozialen Sadismus“, das 2019 in der Texte zur Kunst-Winterausgabe Evil veröffentlicht wurde, untersucht die Pathologie eines Kunstmilieus, das die Repolitisierung der zeitgenössischen Kunst sowie jede Form von sozialer Verantwortung ablehnt und stattdessen mit der Sprache und den Symbolen der Alt-Right kokettiert. Die „Ablehnung jeder Beschäftigung mit der eigenen Verwicklung in die ständige Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Unterwerfung, eine Ablehnung, die unter dem Deckmantel der ‚künstlerischen Freiheit‘ oder der ‚Meinungsfreiheit‘ antritt“ ist laut Teixeira Pinto und Stakemeier symptomatisch für einen „verletzte[n] Narzissmus […], der nicht in der Lage ist, sich von der genussvollen Einbettung in die zunehmend unter Druck geratene Vorstellung der eigenen liberalen Universalität zu trennen. Während er seine Wunden leckt, fügt er anderen neue zu.“ Vielleicht fungiert das Glossar auch als Antwort auf die Sommerausgabe des SPIKE-Magazins, mit dem vielsagenden Titel Immorality (oder, wie auf der Website, funnily enough, fälschlicherweise steht: Immortality): „Immorality is a response to the widely held idea that art needs to be moral. The world’s fucked up, and the art world is guilty too, so in some ways that makes sense. It’s brought art closer to politics and activism, given it a social and political function. But art is also a place for (self-)doubt and risk and questioning.“ Zu der Ausgabe wurde ein Round Table zum Thema Cancel Culture mit den Edgelords Mathieu Malouf und Nina Power serviert. Mathieu Malouf: „One is not even allowed to crack a joke anymore!“ Jemand aus dem Publik: „Go on, tell a joke!“ Stotternder Malouf, dann Stille. [8] Die Nische wird schnell zum Gruppending – „gleitende Identifikationen, interne Verballungen, Tendenzenbildung, osmotische Ressentiments, you name it“ (Monika Rinck) – und die Gruppe, die ist mein Problem, habe ich schon immer geahnt. Flog ich doch in jeder Stufe (3. Klasse, 6. Klasse, 9. Klasse, 12. Klasse, Kind, Teenie, Frau) aus einer Gruppe raus (Familie, Freundeskreis, WG), löste sich ein Zusammenhang auf, mal mehr, mal weniger selbst provoziert, kam der Rauschschmiss, über kurz oder lang, meistens kurz und schmerzlos, der kickt dann später rein, in der Wiederholung. Das Problem war also die Position, der Abstand (von mir zur Gruppe), das altbekannte Nähe-Distanz-Problem. Nähe ist mein Problem, sagt auch meine Psychoanalytikerin dreimal die Woche. Ja gut, wohl ein universelles Problem, das übernimmt die Krankenkasse. So richtig aufgegangen ist mir mein Gruppenproblem erst auf der Couch zuhause, bei der Lektüre von Monika Rincks Love Ding. Ahh das – handelt vielleicht weniger vom Ding mit der Liebe als vom Gruppenhass, es handelt auch von nischigen Themen, Group Relations und Bion z.B. „Ideale Gruppen“, schreibt Rinck, „ermöglichen libidinöse shifts [Anmerkung: Freud nennt das die Klebrigkeit der Libido]. Ausrutscher? Nein, Verschiebungen. So was wie mit Skiern eine verschneite Treppe runter und das Geländer gerade so zu verfehlen. Wenn man davon ausgeht, dass Gruppen Gründe und Ränder haben, dann haben sie die gleichermaßen innerlich und äußerlich. Von außen scheinen sie homogener zu sein als von innen, aber das ist ja bei den meisten Dingen so.“ Auch bei Nischen. Die trolligen Teens der Dimes Square Szene sehen auch alle gleich und ungefähr so aus: „They are white and not necessarily straight and rich and young and happy”, sagt Dean Kissick, und fährt fort, die eigene Homogenität leugnend: „It’s a very unusual proposition, and people seem to go for it.” [9] Der Insiderwitz als Zeichen der Zugehörigkeit ist ambivalent, für die eine ist er „ein gutes Beispiel für die Hervorbringung von Welten durch das Komische, weil er die Kraft hat, auf einer zentralen politischen und affektiven Ebene Brüche zu erzeugen“ (Lauren Berlant), für die andere ist der Insiderwitz „ein gutes Beispiel für gescheiterte Komik, weil es in ihm keine echte Bewegung gibt“ (Alenka Zupančič). Dazu ein vielsagendes Streitgespräch zwischen Berlant und Zupančič aus einer 2021 erschienenen Texte zur Kunst -Ausgabe zum Thema Comedy: Alenka Zupančič: „Man adressiert ein Publikum, das bereits einer Meinung ist, und verfestigt diesen Konsens einfach noch mehr. […] Wir wissen alle, wo wir stehen, und nichts verändert sich. Das kann natürlich lustig, sehr intelligent und interessant sein, aber im Grunde tut sich da nichts. Ich glaube, das ist eine der Möglichkeiten, eine schlechte Komödie zu machen, auch wenn es einem guten Zweck dient.“ Lauren Berlant: „Ich bin wirklich anderer Meinung, was Insiderwitze angeht, wenn du meinst, dass das Predigen zu den Bekehrten eine Nichtaktivität wäre. Das sehe ich anders. Die Reaktion auf etwas Komisches verlangsamt unter anderem den Ablauf eines Ereignisses. Man kann die Komödie nutzen, um das, was gerade passiert ist, von einem anderen Standpunkt zu betrachten; man kann die Gestalt des Ereignisses transformieren; man kann die Frage transformieren, was nach allgemeiner Übereinkunft die Gegenwart ist. Es gibt einen Unterschied zwischen der formalen Gegenwart der Komödie und der historischen Gegenwart eines gemeinsamen Empfindens. Das Komische erzeugt Momente, das Ästhetische erzeugt Momente; es erzeugt Situationen, die aufkommen. Aber das bedeutet nicht, dass dies ein historischer Moment ist. Trotzdem ist der Insiderwitz nicht nur eine Vorführung dessen, was man schon kennt, sondern eine Auffrischung des Gefühls, dass es ein Innerhalb und ein Außerhalb der kollektiven Reaktion gibt. […] Der Insiderwitz hat noch andere umwälzende Wirkungen, die hier von Bedeutung sind. Die Ablehnung von kollektiver Humorlosigkeit durch die Komödie hat großen Anteil daran, wie Leute etwas produzieren, das Stanley Cavell Anerkennung nennen würde. Der politische Kampf erfordert eine Umstrukturierung der Humorlosigkeit. Und das hat einen wirklich wichtigen Anteil an der Aufrechterhaltung alternativer Welten im Verhältnis zur dominierenden Welt. Die Zirkulation von Insiderwitz-Komödien in einem breiteren Publikum war ein wirklich wichtiger Teil der antinormativen Pädagogik von unten. Und PC, die ganze Frage der Politik der politischen Korrektheit als eine Form von Humorlosigkeit, die den Leuten das Recht nimmt, mit ihrem Objekt zu spielen, ist in den gleichen Räumen aufgekommen wie alle anderen aktuellen Katastrophen, und ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist. Weil es darum geht, wessen Lust an der Belästigung privilegiert wird.“ [10] Nachdem die Institutionskritik uns gelehrt hat, dass wir Teil der Institution, also des Problems sind, ist Reflexion jetzt vor allem Selbstreflexion. Graw und Buchmann warnen vor einer “reflexhafte[n] Selbstkritik […], die sich im Zugeständnis ihrer Positioniertheit bequem einrichtet” – eine Position, die auch die Kunsttheoretikerin Marina Vishmidt vertritt, wenn sie eine Kritik fordert, die sich jenseits der Komfortzone der Reflexivität bewegt, eine Kritik, die Schnitte setzt und es auf sich nimmt, Lücken und Leerstellen zu finden und zu besetzen, durch die die Infrastruktur der Kunst in den Blick kommt und die im unverminderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren birgt. Negativität falsch verstehend, die eigene kritische Distanz kritisierend – understanding it, like Andrea Fraser, as „a form of negation in the psychoanalytic sense: a defensive maneuver that serves to disown the emotional investment in the object of critique and especially desire for that object, including identificatory or narcissistic desire” – entzieht sich der:die zeitgenössische Institutions-, Kunst- oder Kritikkritiker:in dem Anspruch, Kritik von einem Ort außerhalb der herrschenden gesellschaftlichen, ökonomischen oder institutionellen Strukturen zu üben, und besteht stattdessen auf einem Ort innerhalb dieser Strukturen, die zugleich von oben betrachtet (Meta), antagonisiert (Anti) und mit einem Schulterzucken wahrgenommen werden (Erschöpfung) – eine Gleichzeitigkeit von Reflexion, Kritik und Schlaf. Anstatt die affektiven Investitionen in das Objekt der Kritik (die Institution, die Kunst, die Kritik) dramatisch auszuacten und aufzuführen, werden sie von hotten, wenn auch müden Millennials in einer punkigen Anti-Haltung und einer Fake-Meta-Position auf ein affektives Minimum reduziert; eine ruhige, entspannte Haltung angesichts der eigenen Verstrickung. Und so wirft man sich ganz bequem in den Behälter, der einen enthält, also den Container, der einen contained. [11] „Aber Narzissmus ist kein Thema. Narzissmus ist kein Thema? Natürlich ist Narzissmus Thema. Das ist überhaupt das Thema. Find ich ja nicht so toll, solche publik gemachten Selbstreflexionen und Gruppenprozesse. Und dann Selbstdarstellung, aber im Fluss sein, das ganze Weggerissene muss mit rein. Das Weggerissenwerden. Über das eigene Leben sprechen, das nicht das eigene ist. Die zwei Millimeter Abstand. Selber machen und sich dabei zeigen. Zitathaft. Du meinst zwanghaft. Zwanghaft zitathaft. Aber es soll schon das sein, was man mit sich selber macht in der Produktion, und das zurückspiegeln, das ist doch dann beunruhigend genug. Ich finde halt veröffentlichte Gruppenselbstreflexionen nicht so eine tolle Geste. Ja, das hast du schon mal gesagt, aber das machen wir ja auch gar nicht.“ (Monika Rinck) [12] „This might be the end of autofiction.” (Dean Kissick über Tao Lins Buch Leave Society)