Die ideologischen Brühwürfel aus der Suppe agitieren
– Gespräch mit Total Refusal
– Gespräch mit Total Refusal
von Simon Nagy
Das Kollektiv Total Refusal übt marxistische Gesellschaftskritik auf der Grundlage von populären Videospielen. Persönlich kennengelernt habe ich seine Mitglieder, als sie Anfang 2023 zu Gast bei einem linksradikalen Wiener Lesekreis waren und dort ihre Arbeit präsentiert haben. Wir schauten und diskutierten Hardly Working, einen Kurzfilm, der arbeitsethnografisch den nicht-spielbaren Charakteren in Red Dead Redemption 2 folgt und auf diesem Weg über Arbeit im Spätkapitalismus reflektiert. Die dritte Ausgabe von dis/claim zum Thema ‚outside‘ nahmen wir zum Anlass, die damals begonnenen Gespräche fortzuführen und die politisch-ästhetischen Strategien im „Agitainment“ von Total Refusal näher zu beleuchten.
Mir scheint, das Thema ‚Outside‘ passt bei euch wie die Faust aufs Auge: Ich nehme euch an der Grenze verschiedener Felder wahr, aber dabei doch immer eher außerhalb von ihnen. Ihr arbeitet im Kunstfeld, seid in Ausstellungen und auf Festivals prominent vertreten, präsentiert euch aber selbst trotzdem nie als Künstler:innen. Aus der Welt des Gamings bezieht ihr zwar euer Material, verfremdet es aber narrativ und speist es in andere mediale Formen ein. Und von traditionell aktivistischen Kontexten distanziert ihr euch bereits durch eure Selbstbenennung als „pseudomarxistische Medienguerrilla“. Gibt es dennoch einen Ort, ein ‚Inside‘, mit dem ihr euch positiv identifiziert?
Wir feiern und tanzen wirklich gern auf vielen Hochzeiten. Am besten aufgehoben fühlen wir uns aber im Film. In ihm liegt gewissermaßen auch die Geburtsstunde des Kollektivs: Leonhard [Müllner] und Robin [Klengel] haben 2018 gemeinsam Operation Jane Walk gemacht, einen filmischen Architektur-Spaziergang durch das New York des Shooters Tom Clancy’s: The Division. Es kam die Idee kam auf, den Film bei der Diagonale einzureichen, weil dort ja alle, die eingereicht haben, für das Festival akkreditiert werden. Der Film wurde dann tatsächlich genommen und es entstand eine gewisse Außenwahrnehmung: „Aha, nun sind wir also Filmemacher.“ Dabei ist die Arbeit eigentlich als einstündige Performance entstanden, von der wir bloß einen Cutdown als Kurzfilm eingereicht haben. Seither ist der Kurzfilm aber tatsächlich unser Medium.
Film bringt für uns auch eine weniger auf Distinktion akzentuierte Atmosphäre mit sich, im Vergleich zu beispielsweise Marktkunst, die hochkompetitiv ist und dadurch tendenziell entweder exklusive oder basarartige Schauräume erschafft. Natürlich sind auch Filmfestivals Orte, an denen eine Szene sich selbst feiert. Aber hier treffen doch Leute zusammen, die in der Regel mit der Welt und einer Vielzahl von diversen Menschen und Anliegen befasst sind und die deshalb eine Sprache zu wählen versuchen, mit der sie auch außerhalb von sehr legitimen, wunderbaren und experimentellen Nischen möglichst viele Menschen erreichen können. Bei der Kunst ist es genau andersrum, in vielen Fällen zumindest.
Nach einer solchen Sprache sucht ihr an sehr eigenwilligen Orten. Ihr spielt Videospiele und interessiert euch für die dort herrschenden Logiken, die ihr dann mit den ideologischen und ökonomischen Strukturen unserer Welt in Beziehung setzt. In welchem Verhältnis steht für euch dieses ‚Innerhalb‘, das ihr der fiktionalisierten Welt von massenwirksamen Spielen vorfindet, zu dessen ‚Außerhalb‘, also der kapitalistischen Realität, in der wir uns alle begegnen?
Das Interesse an digitalen Welten treibt uns seit unseren allerersten Arbeiten um. Man kann in ihnen wahnsinnig viel Zeit verbringen, ohne sie dem intendierten Gameplay nach zu spielen, und dabei durch genaues Beobachten viel lernen. Aktuell spielen wir alle ein Racing-Game, das wirklich nur dafür gedacht ist, in der Schnelligkeit, die dir das Auto zur Verfügung stellt, herumzurasen. Aber die Entwickler:innen haben trotzdem eine ganze Welt rundherum designt, die du dir in all ihren Details anschauen kannst.
Und unser zentraler Punkt dabei ist, dass in Videospielen immer die reale Welt dargestellt wird, nur eben durch einen gewissen Filter, der rein ökonomischer Natur ist. Das ist erstmal kein großer Unterschied zu unserer realen Welt, die ja auch vornehmlich aus ökonomischen Gesichtspunkten heraus gebaut wird. Nur findet in Spielen die Darstellung über eine reine Marketing-Logik statt, was zu einem Idealbild dessen führt, was dargestellt wird: Körper sind idealisiert, Männlichkeit ist idealisiert, Weiblichkeit ist idealisiert, Natur und Städte ebenso.
Wir sehen unsere Arbeit als Hegemonieforschung und aus genau dem Grund schauen wir uns vor allem Triple-A-Spiele an, also die richtig großen Spiele. Die Videospiel-Industrie macht gegenwärtig mehr Umsatz als die Musik- und die Filmindustrie gemeinsam. Angesichts dieses Absatzmarktes ist es interessant, genau hinzuschauen, in diese Spielewelten einzusteigen und sich dort zu fragen: Wie wird Arbeit dargestellt? Wie wird Gender dargestellt? Und wie wird dieser Welt überhaupt eine gewisse Normalität verliehen? Auf diesem Weg lässt sich viel über unsere Gegenwart und ihren Konsens lernen.
Indem ihr diese Fragen stellt und die Spielewelten auf ihre Grenzen auslotet, unternehmt ihr so etwas wie ein situationistisches dérive: also die absichtliche Abkehr von denjenigen Logiken, die die jeweiligen Spiele eigentlich einfordern, zugunsten eures kritischen Interesses. Entfernt ihr euch mit dieser Guerilla-Taktik auch von der Gaming-Community, die zwar dieselben Spiele spielt wie ihr, aber vermutlich mit ganz anderem Interesse?
Wir sehen da gar keinen Widerspruch und wir unterscheiden uns in unserer Arbeitsweise auch eigentlich gar nicht von dem, was die Gaming-Community selbst tut. Das Guerillahafte liegt bei uns darin, ein Spiel entgegen dem intendierten Gameplay zu spielen. Viele Gamer:innen machen genau dasselbe, pfropfen Spielen andere Konzepte, andere Spielweisen, andere Texturen auf und greifen damit semantisch und ästhetisch stark in sie ein. Es gibt Leute, die zum Beispiel in Minecraft einfach endlos herumgehen und das live streamen oder auf Gewalt ausgelegte Spiele friedlich spielen.
Viele unserer Strategien beziehen wir in diesem Sinn direkt aus der Community. Hardly Working ist zum Beispiel von einem YouTube-Video inspiriert, in dem ein Gamer die NPCs in Red Dead Redemption betrachtet und darauf aufmerskam macht, wie unglaublich detailliert die Bewegungen der nicht spielbaren Charaktere mittlerweile programmiert sind. Diese Beobachtung haben wir aufgegriffen, weitergedreht und mit unseren antikapitalistischen Fragen aufgeladen.
Ganz generell arbeiten wir mit dem Massenmedium Videospiel, weil es so gut konsumierbar ist. Wir gießen marxistische sozialwissenschaftliche und ökonomische Theorien in diese extrem hyperrealen, schönen Bilder, in der Hoffnung, dass die Theorien dadurch ansprechend werden. Das nennen wir „Agitainment“. Kapitalismuskritik und Antikapitalismus werden immer mehr zu den Themen, die uns am wichtigsten zu kommunizieren sind, und wir agitieren sie so weit, so stark und so heftig wir können. Wenn unsere Filme etwa auf Festivals gezeigt werden und auf die Screenings Publikumsgespräche folgen, dann ist es unser Hauptziel, die Zuhörer:innen in unserer Zeit der Multikrisen von einem gemäßigten Pragmatismus wegzubekommen – also sie zu radikalisieren.
Ihr stützt euch dabei innerhalb eurer Filme auf ganz unterschiedliche Erzählstrategien. Bei den Essayfilmen Hardly Working und How to Disappear hören wir geskriptetes und in perfektem Englisch eingelesenes Voiceover. Eure jüngste Arbeit, Kinderfilm, hingegen, kommt ganz ohne gesprochene Sprache aus und setzt nur auf Zwischentitel. Und eure Performances wie Red Redemption oder Everyday Daylight, die in geschnittener Form als Filme vorliegen, basieren auf spontaner und frei gesprochener Sprache von mehreren von euch. Wie sieht euer Reflexionsprozess darüber aus, welche sprachliche Form ihr für welche Art eures Agitainments verwendet?
Einerseits hegen wir große Leidenschaft für unsere Performances, weil sie eine ganz andere Rezeptionshaltung hervorrufen, als es zum Beispiel Kurzfilme tun. Bei den Performances kriegst du nicht fertig produzierte Bilder und perfekten Sound, sondern niemand weiß, was passieren wird: Im Spiel ereignen sich unerwartete Dinge, du weißt nie, wie die NPCs reagieren, und vielleicht fährst du selbst mit dem Auto wo dagegen, baust einen Unfall oder der Server haut dich raus. Die lockere Gesprächsform über das Live-Spielen macht viel Spaß und im vielstimmigen Sprechen kommt natürlich auch das Kollektiv voll zur Geltung.
Andererseits merken wir, dass uns die Form des Videoessays und das anonyme Voiceover unfassbar viele Möglichkeiten geben, dichten Content in einen Film zu packen. Wir wollen radikale Inhalte vermitteln und radikale Inhalte lassen sich oft nicht nur durch Bilder erzählen, sondern brauchen eine gut überlegte narrative Ebene. So eine Art des Sprechens wird gern, zum Beispiel im Fall von Adam Curtis, als bevormundend oder autoritär kritisiert. Wir finden dieses Sprechen aber total okay, wir lieben es zum Teil sogar. Man kann als Zuschauer:in immer noch sagen, dass man Dinge anders sieht oder einzelnen Punkten widerspricht. Aber narrative Autorität selbst ist für uns kein Problem. Wenn wir die Nachrichten anschauen oder Geschichtsunterricht haben, dann ist das ja in der Regel auch nicht multiperspektivisch aufgezogen. So sind leider unsere Institutionen nicht aufgebaut. Das wäre demokratischer, es ist aber nicht so. Und dementsprechend versuchen wir mit ähnlichen Strategien in die Verhältnisse zu intervenieren. Wir wollen mit unserem Agitament schließlich nicht eine reine Multiperspektivität verkörpern, sondern in die Hegemonie eindringen, um dort im liberalen Konsens Multiperspektivität überhaupt erst zu ermöglichen.
Dabei sind uns Unterhaltung und Convenience beim Betrachten wichtig. Wenn man schon etwas kritisiert, dann muss man das auch möglichst breit und unterhaltsam ausformulieren, denken wir. So im Sinne einer Dreigroschenoper, vielleicht. Gegenwärtig wird ein Massenpublikum ausschließlich von profitgetriebenen Bildern unterhalten. Die Inhalte, die wir täglich konsumieren, von Ö3 bis zu Marvel-Filmen, sind ja Wort und Bild gewordene Marketing-Statistiken. Dem gegenüber steht der Kunstsektor, in dem nicht Unterhaltung im Vordergrund steht, sondern Freiheit, Experiment und kreativer, kritischer Ausdruck – und der damit in seiner eigenen, selbstbezogenen, distinktiven bürgerlichen Echokammer bleibt. Wenn wir uns eins wünschen dürften, dann dass einem kunstfremden Publikum bessere Zugänge zur Kunst ermöglicht werden und Massenmedien experimenteller, mutiger werden, ohne dass dabei ihre künstlerische Integrität beeinträchtigt wird. Dafür müsste man vermutlich aber den Kapitalismus gleich mit aufheben.
So brandredend, wie ihr gerade über die Aufhebung von Kapitalismus sprecht, tut ihr das ja auch in euren Arbeiten. In ihnen zeigt ihr Dinge und benennt Mechanismen, die unsere Welt strukturieren – immer im Bestreben, sie auf dem Weg des Erkennens bekämpfen und transformieren zu können. Eine zentrale Rolle scheint mir dabei Sichtbarmachen als Strategie zu spielen. Woher rührt euer Interesse daran, Unsichtbares sichtbar zu machen?
Noch bevor wir uns überhaupt „marxistisch“ genannt haben, war das unser allererster Zugang: die Sichtbarmachung der verunsichtbarten Regeln. Diese Methode lässt sich auf alle Spiele anwenden, vor allem aber auf Shooter: Wen kann ich abschießen? Wer ist wie dargestellt? Wie viel Handhabe oder wie wenig Freiheit habe ich? Diese Fragen sind fast schon naiv, werden aber schnell sehr politisch. Denn in den großen Spielen wird permanent mit Normativität gearbeitet: Die Guten sind gut und die Bösen sind böse, die Frauen sind nach stereotypen Frauenbildern erstellt und so weiter. Und daran lässt sich das Ideologisch-Operative unserer Gesellschaft beobachten, gemeinsam mit dem ihr eingeschriebenen Konsens.
Sichtbar machen lassen sich dann zum Beispiel die politischen Haltungen der Autor:innen, die die Vorlagen der Spiele schreiben. Tom Clancy zum Beispiel hat die Ängste des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert mit seinen Bestseller-Thrillernbebildert, die dann von der Spielefirma Ubisoft als inzwischen riesengroßes Franchise aufgegriffen worden sind. In den Spielen werden extrem Reagan-lastige, hurra-patriotische Inhalte auf Staaten wie Bolivien gestülpt, in denen man als CIA-Agent das Land aus den Händen von Drogenbossen reißen und wieder in Ordnung bringen soll. Das sind mitunter die weltweit größten Spiele mit den meisten Budgets. Und diese ideologischen Brühwürfel, die in den glänzenden Texturen des Spiels aufgelöst werden und damit auch verunsichtbart werden – die möchten wir wieder sichtbar machen.
Sichtbarmachung in Spielen ist nicht zuletzt oft die Sichtbarmachung von Glitches. Es reicht, wenn man den Apparat lang genug anschaut, um zu sehen, dass er in seiner Komplexität manchmal über sich selbst stolpert. Und das ist auch abseits alles Politischen einfach humorvoll, das macht großen Spaß. Manchmal führen wir selbst Mods, also technische Modifikationen, in den Apparat ein, um Glitches hervorzurufen. Für unsere installative Arbeit Club Stahlbad haben wir eine Disco mit Non-Playable Characters aus dem Spiel Cyberpunk 2077 gebaut. Wir haben vier der Nebencharaktere aus dem Spiel herausgelöst und sie dann zu von uns selbst komponierter Musik tanzen lassen. Und darin ist erfahrbar geworden, dass selbst so komplex, präzise und gut gemachte Spiele wie Cyberpunk scheitern, wenn es um menschliche Freude geht: weil sie immer das Gefühl des Nicht-Lebendigen transportieren. Das wird im Kontext einer Disco natürlich besonders augenfällig, in der es ja ums Loslassen gehen sollte. In der Arbeit gibt es gar keine sprachliche Ebene, sie ist reine Party. Es kann ja nicht immer nur alles Hardly Working sein, manchmal darf auch ein bisschen locker-flockig getanzt werden.