Interiorität oder Alles (in sich) aufnehmen
von Anke Dyes
Menschen in Scheiß-Hotels hatte ich als Leben in Scheiß-Hotels erinnert, und damit das Elend noch ausgeweitet in meinem Kopf. Das Stück ist Teil des Projekts Wohnfront 2001-2002 von Rene Pollesch und circa zwanzig Jahre alt. Seitdem scheint sich vor allem geändert zu haben, dass Prekarität nicht mehr der Preis von Kunstmachen ist, sondern dass nun alle so leben und leben sollen.
Eine erste, sehr andere Version dieses Textes entstand für eine Ausstellung, die die Trennung zwischen zuhause und nicht-zuhause, von öffentlich und privat als formale verhandelte. Aber sowohl die Arbeit der Künstlerin als auch meine am Text verdienten einen Abstand zueinander. Dabei verstehe ich Pressetexte auch immer wie eine Art Disclaimer: wie einen Kontext, der der Arbeit zur Seite gestellt wird, statt sie zu umschließen; wie den Kommentar, der darauf verweist, dass es da draußen (outside!) eine Welt gibt, mit ihren anderen als ästhetischen Entscheidungen, zu der diese Arbeit im Verhältnis steht.
Statt über ein Außen, also alles, was außen bleibt, weil es nicht anders kann, nicht reinpasst oder -gelassen wird, oder eben außen sein will, zu sprechen, will ich hier einige Gedanken zu etwas, das ich Interiorität nennen will, anbieten. Denn mit der einen ändert sich das andere. Soweit die These.
Interorität kann als Wort, das sowohl Innerlichkeit als auch Innenräumlichkeit meint, eine Brücke zwischen der „hysterischen Architektur“[1] innerer Anordnungen von Trieben, Projektionen und Hemmungen und ihren dreidimensionalen Entsprechungen schlagen. Ein Beispiel dafür ist etwa die Couch der Analytikerin*, die in einem Raum in ihrem Zuhause steht, so dass die Innerlichkeit der einen Person der der anderen einen dreidimensionalen Raum bietet. Ein anderes Beispiel für diese Doppeldeutigkeit findet sich auch in Self-Care in Form von Pflanzenzucht, mit der in Zeiten des Lockdowns die Seele beruhigt und das Heim verschönert wurde, als das Abflachen-Müssen der Kurven Interiorität erzwang.
Aber Interiorität ist nicht Privatraum. Oder nicht nur. Spätestens seit etwa März 2020 wurde mehr über öffentliche Innenräume nachgedacht, Räume also, die man sich mit anderen teilt, auch mit denen, die man nicht kennt. Nicht alle davon sind Ausdrücke von oder geben Raum für Interiorität. So beruht im Railjet sitzen und einfach so neben fremden Menschen einschlafen können auf der Wahrung bestimmter Grenzen: Kein Blickkontakt und keine sonstigen Übergriffe in den Raum und die Aufmerksamkeit der Anderen. Dieser Umgang markiert diese Räume als solche, in denen man sich indifferent, und weitgehend ohne Bezug aufeinander bewegt – „in difference“ nennt das die kanadische Medienwissenschaftlerin Wendy Hui Kyong Chun an einer Stelle.[2]
Das Außen des öffentlichen Personennahverkehrs, das auch das Außen der Stadt und der Schaufenster ist, erlaubt denen, die sich in ihm bewegen, die Möglichkeit, aneinander vorbei zu gehen in Infrastrukturen, die sich gleichen, auch wenn es an manchen Stellen verschiedene Klassen gibt (etwa: 1. oder 2.). Innen ist hier keine Position relativ zum „outside“, zum Nicht-Mitmachen oder Nicht-Gemeint-Sein, sondern unpersönlich geteilter Raum, in den oft nicht legal nach eigenen Präferenzen eingegriffen werden kann, dessen Umgestaltung etwa durch Graffiti oder Austreten der Straßenlaterne als Sachbeschädigung gilt und nicht als Vorschlag der diesen Raum Nutzenden.
Aber auch Innenräume, die eben jene neue oder andere Art der Interiorität bieten, die ich hier zu beschreiben versuche, lassen sich nicht unbedingt frei gestalten. Sie bieten erstmal allen Raum, aber auch nicht allem von allen. Dies gilt besonders für die Strukturen, die Innen und Außen sowieso in sich aufnehmen: Beim Zoomcall in die Wohnzimmer aller Arbeitskolleg*innen lässt sich die Snap Camera einstellen, um den Kopf mittels eines Filters rauchen zu lassen. Der „personal“ Computer legt generell fest, was überhaupt persönlich sein kann, und ist zugleich, wenn er vernetzt ist, viel weniger privat als er vorgibt. Statt um ein Drin-Sein in den Strukturen durch peinliche Angepasstheit, geht es damit um das Überhaupt-Mitmachen-Können und um das Annehmen der Bedingungen und Erfüllen der technischen und ökonomischen Voraussetzungen. Dieses Umdenken in Bezug auf das Verhältnis von Innen und Außen lässt sich auch daran beobachten, dass in den letzten Jahren zunehmend Infrastrukturen anstelle von Machtstrukturen diskutiert werden. Dabei definiert das, wo man mitmacht, vielleicht um überhaupt vorzukommen, was man machen kann, ist dieses Innen nicht etwa ein gemeinsam gestalteter Raum, sondern einer mit mehr oder weniger ausgesprochen rigiden Vorgaben, der zudem die Unterscheidungen zwischen dem Persönlichen und dem Geteilten selbst neu zieht.
Als Beispiel dafür können die zunehmend angebotenen und bereitgestellten Dinge gelten, die temporär genutzt werden können, die ich ebenso wie alle anderen erstmal haben kann, ohne sie (für meine eigene und ausschließlich meine Nutzung) zu kaufen. Roller und Autos, die herumstehen und temporäre Unterkünfte, die gefüllt sind mit beweglichen Dingen, die aber in so großer Auflage und so geringer Qualität hergestellt wurden, dass ich sie nicht in den Koffer stopfe – die Extragepäckgebühr würde die Anschaffungskosten des Standmixers, des Haarföhns oder der ebenfalls bereitgestellten Kosmetika übersteigen.
Als reisende Kulturarbeiterin wird man zuweilen in einer solchen Unterkunft untergebracht. Der in ihnen gesetzte Standard der Einrichtung bleibt notwendigerweise unpersönlich. Flächen und Materialien zeichnen sich dadurch aus, leicht zu reinigen zu sein, Farben halten sich zurück, grafische Elemente suggerieren Niveaus ästhetischer Auseinandersetzung. Der Pool ist leer und das Feuer auf der Dachterrasse ist eine Gasflamme, die wärmt und seltsam riecht. Die Attribute luxuriösen Wohnens werden erfüllt, ohne dass jemand sie je auf tatsächliche Wohnlichkeit überprüft hätte. Nur mit der Einstellung des Thermostats oder der Eingabe des Netflix-Passworts in die Benutzeroberfläche des Flachbildschirms kann ich den Raum zu meinem persönlichen machen, spiegelt er mir wider, was ich mag oder wenigstens präferiere. Der Raum selbst scheint als Benutzeroberfläche konzipiert, ist ein Angebot, eine Plattform, deren Besitz (also wem sie gehört – wobei auch die Frage, was ihr gehört, interessant ist) mir nur nicht klar ist, die jedenfalls nicht meine ist oder werden kann.
Diese AirBnB-isierung des Wohnens zieht sich dabei durch verschiedene Preissegmente und führt insgesamt dazu, dass Wohnraum knapp und teuer ist. In verschiedenen Städten, in denen ich entweder zu Gast bin, arbeiten gehe oder wohne, entstehen derzeit an verschiedenen Stellen neue, möblierte Wohnanlagen, in denen Leute temporär, vielleicht länger als im Scheiß-Hotel, aber für eine begrenzte Zeit, wohnen können und sollen. Als Auftragnehmer*innen verdienen sie an ihren (eigenen) Laptops genug Geld und haben zugleich nicht genug Zeit für eine andere Art des Wohnens. Das ist zumindest der Pitch. Dieses Wohnen soll naheliegend, bequem und einfach sein, wenn auch teurer als die Einzimmerwohnung mit unbefristetem Mietvertrag. In den Teilen der Stadt, die ansonsten vor allem für ihre Schwimmbadschlägereien bekannt sind, erhöhen sie den ökonomischen Druck auf die Leute, die hier seit Jahrzehnten wohnen, bis sie aussterben oder wegziehen. Und deren Wohnungen immer teurer werden, spätestens dann, wenn sie tatsächlich in unattraktiveren Randgebieten eine neue Wohnung finden. Eine neue Generation der Gentrification of the Mind[3], oder vielleicht ist Berlin einfach spät dran.
Als temporäre Unterkünfte konzipiert, haben Wohnkomplexe, die „Habyt“ heissen oder „Social Hub“ manchmal Lobbys, in denen niemand sitzt, und erinnern an Hotels auch in der Standardisierung, die beim Blick in die Fenster abzulesen ist. Durch ihr Branding, das sie als diese spezifische Art der Unterkunft ausweist, vermitteln sie, dass es sich hier um eine umfassende Aufnahme aller Lebensbereiche in eine Logik handelt, die diesen Raum ausmacht. Dabei ist dessen Logik selbst eine der Aufnahme (des In-Sich-Aufnehmens). Nicht von ungefähr stellten sich die geteilten Arbeitsräume von „wework“ und das dazugehörige Startup jüngst als Kult-ähnliche Strukturen heraus. Denn die Unterkünfte oder Büroräume verhalten sich nicht nur in Bezug auf ihre Adaptabilität wie Plattformen, sondern auch in Bezug auf die Einbindung ihrer Nutzer*innen. Sie versuchen stets, sich selbst, das heißt die Nutzung ihres Angebots als Ausgangspunkt für alles andere zu etablieren, also ein möglichst umfassendes Einschließen aller Lebensbereiche möglichst vieler Teilnehmender.[4]
Dabei ziehen die angesprochenen Unterkünfte eine komplizierte Grenze zwischen der Interiorität der Bedürfnisse und der Innenräumlichkeit ihrer buchstäblichen („brick and mortar“) Wände, Türen, Decken und Fenster, bei denen die Frage, welche Dinge des täglichen Gebrauchs einem gehören müssen (Zahnbürste ja, Mobiltelefon nicht wirklich, ebenso wenig das Sofa, das Auto, die Mail-Adresse) deutlich hervortritt. Interiorität wird zum persönlichen Setting und der Default, die Werkeinstellung, das, woran man nur indirekt mitgearbeitet hat. Diese Art der Interiorität hat eben nichts mehr mit der Couch der Analytikerin* zu tun, sondern denkt Self-Care als Bezug auf und Wissen um die eigenen Affekte. Darin klingen bestimmte Ideen des besseren Wohnens dank der Erforschung effizienter Bewegungsabläufe nach, der optimierten Abstände um die Qualität auch kleiner Wohnungen für die, die weniger Geld haben, zu verbessern.
Was nicht bedeutet, dass dieses Wohnen die Fortsetzung der Frankfurter Küche oder Fickzelle (Heiner Müller) wären. Stattdessen wird hier eine flexible Selbstständige* angesprochen, und die Bequemlichkeit, die es bedeutet, wenn das Sofa nicht mit umziehen muss. Was ja nicht zuletzt den Vorteil hat, dass auf globale Krisen (siehe oben) mit einem Umzug in die Hotelanlage am Mittelmeer reagiert werden kann. Ein Move, der weniger auf Abgrenzung und Aussteigen hinauswill, sondern vielmehr ein möglichst smartes Umnutzen der infrastrukturellen Möglichkeiten anstrebt. Schließlich nimmt man ja den Laptop mit.
Das ist nicht das Gegenteil der Stadt der Schaufenster und der Bahnfahrten, sondern ihre Weiterentwicklung (wissen wir ja). Bei Pollesch war an den Scheiß-Hotels das Problem, dass ein Zuhause realisiert werden sollte, das deine Mitarbeit braucht. Aber dass wir es nicht mehr Arbeit nennen müssen und trotzdem ausgenutzt werden, wissen wir auch.
[0] Pollesch machte damals das Buch Die Stadt als Beute (Dietz Verlag, 1999) von Klaus Ronneberger, Stephan Lanz und Walther Jahn zum Jahresthema der Prater-Inszenierungen, Stadt als Beute, Insourcing des Zuhauses. Menschen in Scheiß-Hotels, Sex (Uraufführungen 26.09.2001, 27.10.2001 und 02.02.2002 im Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin).
[1] Siehe dazu sowie zum folgenden Beispiel Jamieson Webster: Disorganization and Sex (Divided Publishing, 2023) hier besonders ihre Replik auf Paul Preciados Can the Monster speak? (Fitzcarraldo Editions, 2021) im Kapitel „Useless Organs“, S. 168-179.
Ich übernehme die weibliche Form von ihr, da sie über sich selber spricht. Das Beispiel ließe sich selbstverständlich auch auf Analytiker*innen und Patient*innen aller Gender anwenden.
[2] In ihrem Buch Discriminating Data (MIT Press, 2021), S. 239 ff.
[3] Sarah Schulman: Gentrification of the Mind: Witness to a lost Imagination (University of California Press, 2013).
[4] Siehe dazu Nick Srnicek: Platform capitalism (Polity, 2016).