DICH SELBST MAL, EBEN, SEHR ERNST NEHMEN, NEBEN MIR
von Gianna Virginia Prein

Bevor du zu Toni Schmale und Bruno Gironcoli in die Albertina Modern kommst, siehst du I love you and leave you bei Charim, wo du von mehr als sechs Arbeiten gerührt bist; gehst mit Bubble Tea zu Lena Henke bei Layr, bleibst dort mehr an ihren Schaukästen auf der Straße als im Galerieraum selbst hängen; bist zu spät, weil falsch informiert, für die leider gestern geschlossene Ausstellung bei Tappeiner; zahlst schließlich in der Albertina Modern genervt die 15€, weil du verplant hast nach Pressekarten zu fragen; gehst nach der in diesem Text besprochenen Ausstellung zu Beauty of Diversity; und bist dann so schummrig im Kopf, dass ein zweiter Besuch der Installation einer Freundin, die du beim Aufbau beraten durftest, in der Ausstellung Auf den Schultern von Riesinnen im Künstlerhaus – du findest es sollte Künstler*innenhaus heißen – nur noch fatal gewesen wäre.




       Den Raum betreten, mit jeder Ausstellung neu – klingt gut, in Wahrheit warst du aber noch nie vorher hier, weil du nicht einsiehst, trotz IAA-Ausweis, als Wiener Künstler*in so viel Geld für den Besuch einer Institution zu bezahlen, die eine zwar beachtliche aber dennoch private Sammlung mit Steuergeldern finanziert und noch dazu das aufgekaufte Gebäude der Wiener Künstler*innenvereinigung bespielt. Du bist trotzdem hier. Und zahlst. Du liebst einfach Toni Schmales Arbeiten. Das Augenzwinkern, das in den brutalistisch-minimalistischen Arbeiten mitschwingt, sich ins hitzegehärtete Material einschreibt. Die mehrdeutigen Verhältnisse zwischen Körper, Montage und Gravitation – schraubenlos, verschweißt, zitierend, stabil – führen direkt zur Frage: Wer hält hier wen?


Du witzelst ein bisschen mit dieser Person auf einer Eröffnung.

Du schenkst einer Bekannten eine Edition deiner Arbeit.


      So viel stehendes Metall und schimmerndes Blei auf Papier. Daneben eingerahmte, zartgestrichelte, semitransparente Farbübergänge. Unteransichten, Spiegelungen, Spalten dokumentieren Gedanken und Fragen zu deiner eigenen Praxis. Neue Nahaufnahmen reihen sich ein in deine Detailsammlung von Kunstwerken und anderen Gegenständen, die eine Speicherkarte nach der anderen füllen. Für die Objekte reicht das Geld nicht, stattdessen setzt du auf Eindrücke als Humankapital.


Du gehst auf die Eröffnung eines Kollegen.

Deine Freundin erwähnt dich bei einer befreundeten Galeristin.


      Selbst wenn das Material, mit dem du arbeitest, ein anderes ist, sind Prozesse und Methoden immer irgendwie übertragbar. Welcher Stoff wurde wie in welche spezifische Form gebracht und was sagt dieses Verfahren aus?  Ist dir die Fertigung zu industriell, die Textur zu glatt oder die Oberfläche zu entkörpert? Fehlt es dir an Emotionen oder spürst du den Humor? Die Bedrohlichkeit? Gibt es von deiner Seite ein Begehren, Abstoßung oder beides? Welche Konzepte durchziehen deiner Meinung nach die hier gezeigten Werke, wodurch werden sie deutlich? Begeistert dich ihre hermetische Abgeschlossenheit oder suchst du nach Durchlässigkeit? Ist das, was du in den Arbeiten siehst, explizit, angedeutet oder nur in deinem Kopf?


Du übersetzt den Text deiner Freundin.

Du postest die Arbeit einer Kollegin.


      Überschneiden sich die Informationen auf den Wandtexten mit dem, was du in den ausgestellten Werken siehst? Welche Aspekte kennst du aus anderen Bereichen: Gibt es kunsthistorische, sozialwissenschaftliche, naturwissenschaftliche, fiktionale, psychologische, biographische, etc. – Referenzen? Wie verhält sich das, was du siehst, zu diesen Referenzen? Wie verhält sich deine eigene Arbeit zu deinen eigenen Referenzen? Referenzen, Referenzen, Referenzen – welche Logiken stecken dahinter? Keine? Du arbeitest proklamiert „referenzlos“?


Du besuchst eine alte Freundin in einer anderen Stadt.

Eine Bekannte lädt dich zum Dinner ein.


      Du denkst die Verbindung von Schmale mit Gironcoli ist ein falscher Freund, unglücklich gewählt. Die Arbeiten nehmen sich mehr, als sie einander geben: Die Beschäftigung mit grob ähnlichen Themen - den Wechselbeziehungen zwischen Technik und Organischem -, die die Ausstellung zusammenhält, setzt den Fokus auf formale Parallelen, die von der Eigenart und Mehrdimensionalität der Arbeiten selbst ablenken. Gironcolis fiktional-archaische Aluminiumgüsse und eindrucksvoll gezeichnete, Schaltstationen-ähnliche Gebilde monologisieren neben Schmales industriell-performativen Nutzgeräteskulpturen, die den Körper mitdenken ohne ihn zu zeigen. Vielleicht findest das aber auch nur du. Während Schmale mit ihren Herstellungsverfahren und der Vorstellung und Körperlichkeit der Betrachter*innen selbst spielt, scheinen Gironcolis mit u.A. Föten und Weizenähren betriebene Energieversorgungsanlagen in sich abgeschlossene Systeme zu sein. Dabei sind Gironcolis hier gezeigte Güsse nur Versatzstücke seiner megalomanen Skulpturen, die verstaubt und unetikettiert im Tier- und Naturpark Schloss Herberstein in der Steiermark residieren und die du vor zwei Jahren unbedingt beim Vorbeifahren besuchen wolltest, damals, als du… Du driftest ab, suchst nach Brüchen, findest etwas Fragilität in den radierten Bleistiftstrichen und den ausgetrockneten Pigmentseen der großformatigen Papierwellen, in denen sich die Farbe im noch nassen Zustand angelagert hat, spiegelst dich im Schutzglas der Rahmung, denkst, das ist ein Foto wert, grinst.


Du wirst von einer ehemaligen Kommilitonin zu einer Gruppenausstellung eingeladen.


    Du stehst vor den Wandtexten und hoffst, nicht auch noch die Worte „Mensch“ und „Maschine“ in einem Absatz lesen zu müssen. Stattdessen liest du, wie Schmales sucker #4 (2024) explizit als die ähnlichste zu Gironcolis Arbeiten ausgewiesen wird, was ein Gefälle erzeugt, das dich ungut berührt. Das Reproduzieren von patriarchalen, heteronormativen Machtstrukturen macht dich leicht wütend. Vor Gironcolis verglaster Leinwand Ohne Titel (1990), die den gleichen Farbton hat wie der violette Lack der Schmale-Skulptur hl. antonia (2015), die direkt vor dem Bild platziert wurde, fragst du dich, seit wann Designentscheidungen angefangen haben als kuratorisches Konzept auszureichen. Hinter den unterschiedlichen Ansätzen vermutest du Weltbilder, die zu deinem Bedauern nur punktuell in Dialog miteinander treten. Die übergroßen Selbstporträts von Schmale und Gironcoli, die in Schwarz-Weiß nebeneinander - fast gegeneinander - gesetzt sind, lassen dich nicht wirklich über die Unterschiede ihrer jeweiligen Blickwinkel nachdenken, nicht über ihre Biografien, ihre Archive, ihre Techniken, die Anzahl ihrer Assistent*innen, ihre Materialien, über ihre Zeit, ihre Figuration, ihre Symboliken, Kontroversen, Möglichkeiten, Sehnsüchte. Sie ausgiebig zu vergleichen und zu analysieren freut dich nicht. Denn obwohl du spürst, dass sich die jeweiligen Herangehensweisen nicht zuletzt in der Art unterscheiden, wie Schmale mit Piercings und Arbeitsschutzbrille vor ihren unfertigen Werkstücken posiert, die auf Hüfthöhe liegen, während Gironcoli mit Hut und verkniffenem Mund vor seiner polierten Skulptur steht, die sich, von unten fotografiert, aufgeblasen hinter ihm erhebt, findest du, dass diese Hängung blöde vereinheitlicht und beide höchstens plump gegenüber stehen lässt. Du hast keine Lust weitere Verknüpfungen zu entwirren, keine Lust Nebensächliches auszusortieren, keine Lust die Arbeiten mit Karen Barads Begriffslogik ihrer agentiellen Apparate zu ergründen, die in ihrem Buch auf deinem Nachtisch von materiellen Konfigurationen und Rekonfigurationen der Welt sprechen, weil die Ausstellung dich faul macht, weil über diese zu einfach nebeneinander gedroppte, hohle Zusammenbringung zu philosophieren dich höchstens frustriert. Dein Bauch – knurrt – extrem – hangry.


Du witzelst ein bisschen mit dieser Person auf einer Eröffnung, weil dir fad ist und ihr einen gewissen Humor teilt.

Du schenkst einer Bekannten eine Edition deiner Arbeit als Dankeschön für ihren Support und, weil es dich freut, deine Arbeit bei ihr zu wissen.

Du gehst auf die Eröffnung eines Kollegen, dessen Arbeit du nicht magst.

Deine Freundin erwähnt dich bei einer befreundeten Galeristin, die dich ab jetzt leise online beobachtet.


      Du entscheidest dich, dich wieder auf die einzelnen Werke zu konzentrieren. Im Augenwinkel verlangt das nebendran Hängende, das weiter vorne Stehende, das links Liegende, nach Aufmerksamkeit. Je näher du dem pulverbeschichteten Stahl kommst, desto stärker dein Puls. Parallel schielst du schon ungeduldig auf die anderen Werke, willst am liebsten alles gleichzeitig sehen. Eins nach dem anderen, sagst du dir, leicht verkrampft. Fokussieren. Tiefer. Atmen. Vor dir Geste, Material, Entscheidung. Was siehst du hier, was passiert mit dir im Sehen?

Du übersetzt den Text einer Freundin als kleinen Freundschaftsdienst.

Du postest die Arbeiten einer Kollegin, weil du sie ernst nimmst.

Du besuchst eine alte Freundin in einer anderen Stadt, weil sie dir fehlt.

Eine Bekannte lädt dich zum Dinner ein. Du bringst einen Salat in einer Keramikschale mit, weil der Salat darin appetitlich zur Geltung kommt.

Du wirst von einer ehemaligen Kommilitonin zu einer Gruppenausstellung eingeladen, weil sie Lust hat mit dir zu arbeiten und dein Potenzial erkennt.

Mit wem du in Beziehung trittst, passiert zufällig und fließend.


      Du schaust dir immer gerne die Ränder an. Irgendwas passiert da mit dir. An den Rändern zeigt sich das Material im gebrochenen Zustand. Oder: Hier fängt das Objekt erst richtig an – wo? Dort, wo es aufhört. Wo es abrupt in ein anderes Material, oder in den Luftraum, übergeht.

Du witzelst ein bisschen mit dieser einen Person auf einer Eröffnung, weil ihr einen gewissen Humor teilt – nicht, weil sie dir einen Monat später ein Empfehlungsschreiben schreibt.

Du schenkst einer Bekannten eine Edition deiner Arbeit als Dankeschön für ihren Support und weil es dich freut, deine Arbeit bei ihr zu wissen – nicht, weil andere Menschen sie in ihrem Regal sehen werden.

Du gehst auf die Eröffnung eines Kollegen, dessen Arbeit du nicht magst – aber dort sind halt wichtige Leute und neue Kontakte sind immer gut.


      Du stellst dich einen halben Meter weiter nach rechts, in die Mitte von der Arbeit streckbank martha (2014). Dein Blick dehnt sich darauf aus, gleitet auf dem Licht des diffus reflektierenden Stahls, verlangsamt sich zusätzlich mit der Wölbung der Zylinder und bleibt an den nahtlosen Kanten hängen. Ineinandergesteckt, liegend. Du beugst dich näher hin, um darunter zu schauen, bis du dich von den anderen Besucher*innen beobachtet fühlst, versuchst dir aber nichts anmerken zu lassen. In Gedanken liegst du schon auf der Bank und lässt dich mit dem gigantischen pulverbeschichteten Nudelholz bearbeiten.

Deine Freundin erwähnt dich bei einer befreundeten Galeristin, die dich ab jetzt leise online beobachtet, während du alleine in deinem Studio verzweifelst oder sinnbefreit feierst.

Du übersetzt den Text einer Freundin als kleinen Freundschaftsdienst – nicht, weil dein Name darunter stehen wird.

Du postest die Arbeiten einer Kollegin, weil du sie ernst nimmst – nicht, um damit deine eigene Attraktivität zu steigern.

      Die ausgeführten Gesten sind nicht klein, die präzisen Arbeitsschritte beachtlich. Auseinander gebaut müssten die einzelnen Teile noch gerade so von der Künstlerin tragbar gewesen sein. Vielleicht unterschätzt du die Dichte des Materials, während du dir den terrazzo-geschliffenen Beton genauer ansiehst. Zusammen brauchen die meisten Skulpturen hier sicherlich viele tragende Rücken oder einen Kran. Sollten Bildhauerinnen mal einen Bandscheibenvorfall gehabt haben, um ernst genommen zu werden? In dir meldet sich eine unmissverständliche Sehnsucht nach einem Konsole-gesteuerten, mobilen Schwerlastkran mit mindestens dem Doppelten deiner Körpergröße als Hubhöhe. Jaaa – noch ein bisschen weiter in dieselbe Richtung – piep – piiep – piieppipiii – 


      Du entfernst dich ein paar Schritte, drückst wieder auf den Auslöser. Gehst vielleicht zur nächsten Arbeit und schielst nochmal rüber. Bemerkst ihn, deinen ganz persönlichen, visuellen Ausschnitt. Deins. Du. Deine Präsenz, denkst du dir, ist notwendig, um das Objekt zu erfassen, damit das, was im Raum steht, nicht obsolet wird. Wo du jetzt stehst, fängt das Licht deine Aufmerksamkeit anders.

Du besuchst eine alte Freundin in einer anderen Stadt, weil sie dir fehlt – nicht, um von ihrem Netzwerk und der kostenlosen Übernachtung zu profitieren.



  Deine körperlichen Dimensionen stehen im direkten und nicht medial reproduzierten Verhältnis zu den Arbeiten – und ihrer Rezeption. Du fühlst die vielleicht 1,65m Höhe deines Blicks, der in deinem Gesicht hängt. Du stehst jetzt schon etwas länger in vermutlich 40-45% relativer Luftfeuchte bei einer Wohlfühltemperatur für Metall und Papier von 18-20°C. Deine Beine sind schon wie Pappe. Du würdest Martha die Streckbank gerne anfassen. Ihr schamlose Notizen unterschieben oder ihre stählerne Fläche mit deiner schwitzenden Haut entlang rutschen, aber hier irgendwie schwierig, und drüben ruft schon die nächste Arbeit nach dir.


Du wirst von einer ehemaligen Kommilitonin zu einer Gruppenausstellung eingeladen, weil sie Lust hat mit dir zu arbeiten und dein Potenzial erkennt – nicht weil sie weiß, wen du alles zur Eröffnung bringst.

Eine Bekannte lädt dich zum Dinner ein. Du bringst einen Salat in einer Keramikschale mit, weil der Salat darin appetitlich zur Geltung kommt – nicht damit du in einem Nebensatz erwähnen kannst, dass die Keramikschale aus deiner Serie „Keramikschalen“ stammt.

Mit wem du in Beziehung trittst, passiert zufällig und fließend – nicht in Abhängigkeit von der Stellung oder dem Wirkungsgrad der Person.

      Deine Neugierde auf die Zusammenstellung der Ausstellung hat ihren unüberwindlichen Tiefpunkt erreicht. Du irrst noch ein paar Minuten stumpf und konzentrationslos umher. Du hast hart gearbeitet; dich informiert, deine immaterielle Sammlung erweitert, dich in Details verloren, über das Gezeigte gesinnt, deine Empfindungen mehr oder weniger reguliert, dir eine Meinung gebildet. Mit all deinen neuen emotionalen und intellektuellen Erfahrungen kehrst du später zurück in dein Atelier. Vielleicht gehst du vorher noch eine Runde joggen, versuchst alles ganz bewusst wieder zu vergessen, um den Kopf frei zu bekommen für dein eigenes Material. Oder du gehst zur nächsten Ausstellungseröffnung und lässt dein neu gewonnenes Kapital mit der nächstbesten Person spielen, ganz im Sinne von Kapital, das Kapital vermehrt. Oder du schreibst einen Text und stellst ihn online, damit noch mehr Leute davon erfahren. Oder, noch besser, du lässt jemand anderes deinen Text online stellen. Alles Teil der Arbeit. Bevor du aber die Albertina verlässt, postet du noch kurz ein Selfie mit martha als kleines Andenken, weil ihr zwei so eine gute Zeit miteinander hattet – nicht?


DANK an Cornelia Lein, Anna Schachinger und Leonie Huber. Außerdem an die Schriftsteller*innengruppe im Rahmen derer Leonie und ich uns kennengelernt haben.


Bruno Gironcoli – Toni Schmale
Albertina Modern, Wien
03.04.-28.07.2024